Vor dem FDP-Bundesparteitag fordert der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum im Interview ein deutlicheres Klimaschutz-Konzept seiner Partei.
Interview mit Gerhart Baum„Kubicki sollte Platz machen für Jüngere“
Herr Baum, nach der Bundestagswahl hat die FDP bei fünf Landtagswahlen in Folge verloren. Was ist der bundespolitische Anteil?
Gerhart Baum: Die FDP hat in der Ampel durchaus eine gestaltende Rolle eingenommen - das ist gut. Aber sie hat es oft unterlassen, ihren Anteil sichtbar zu machen und ihre Forderungen richtig zu erklären. Die FDP gilt als Störenfried - was sie nicht ist, obwohl ich manche Zuspitzungen vermieden hätte, etwa den Konflikt mit der EU in Sachen Verbrennungsmotor. Unter anderem ist die finanz- und wirtschaftspolitische Funktion der FDP in der Ampel ist unverzichtbar. Die FDP muss ein Interesse daran, haben, dass die Ampel stark wird und am Ende der Wahlperiode eine Fortsetzung wünschbar erscheint.
FDP-Anhänger zeigen sich besonders unzufrieden mit der Ampel. Wie erklären Sie sich das?
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Das ist zum Teil trotzige Unvernunft, denn es gibt bis 2025 keine Alternative zur Ampel. Neuwahlen wird es nicht geben. Wenn man Liberalität in die Ampel einbringen will und das müssten ja auch die Unzufriedenen wollen, dann müssen sie die FDP eher stützen, als sich von ihr abzuwenden.
Hat die FDP ihr Wählerpotenzial voll erschlossen?
Absolut nicht. Ziel für die FDP muss sein, sich eine Stammwählerschaft zu erarbeiten, die sie auch dann wählt, wenn es stürmt. Das sind die urbanen Gesellschaften, die Aufsteiger, der neue Mittelstand, also die Leute, die offen sind für eine liberale Lebenshaltung. Die FDP hat die liberal gesinnte urbane Wählerschaft vernachlässigt. Die tendiert jetzt stark zu den Grünen. Aber da gibt es Abnutzungserscheinungen. Es ist kein Naturgesetz, dass die Grünen so deutlich vor der FDP liegen.
Wie lässt sich der Umschwung bewirken?
Da gibt es mehrere Ansätze. Die FDP hat mitunter den Eindruck vermittelt, dass sie es mit der Bekämpfung der Klimakatastrophe nicht so ernst meint. Da muss gegengesteuert werden, zum Beispiel mit einem noch deutlicherem liberalen Klimakonzept für den Verkehrssektor. Ein effizientes und marktwirtschaftlich wirksames Instrument ist der Handel mit Verschmutzungszertifikaten. Dann erfolgt die Lenkung über die Preise. Für den Verkehr sollte dieses System zeitlich vorgezogen werden.
Kann die FDP beim Klimathema überhaupt mit den Grünen konkurrieren?
Klimapolitik ist zu wichtig und vielschichtig, um sie einer Partei alleine zu überlassen. Sie muss vom ganzen Land getragen werden, die Opposition tut das ja auch. Ich habe bereits vor 35 Jahren im Bundestag gesagt, dass fossile Brennstoffe wie Kohle und Öl nicht weiter verantwortbar sind „und wir in Zukunft auf Energieeinsparung und erneuerbare Energien setzen müssen.“ Auf diesem Weg sind wir jetzt. Die Liberalen werden dabei andere Schwerpunkte als die Grünen setzen. Ohne Wirtschaftskraft wird das Umsteuern nicht gelingen. Man streitet aber über den Weg, nicht über das Ziel. Die Grünen denken mehr an Regulierung, die FDP an Selbstverantwortung und Selbstheilungskräfte der Gesellschaft. Und die Grünen haben zu viel Regulierung im Kopf, die FDP mitunter zu wenig.
Die FDP hätte gerne die Laufzeit der letzten deutschen Atomkraftwerke noch einmal verlängert, bis mindestens 2024.
Die FDP hat seit Tschernobyl 1986 Atomenergie immer als Übergangstechnologie angesehen. Ich hätte aber die Technologie nie ganz aufgegeben. Wir haben jetzt allerdings eine Sondersituation, die durch Energieknappheit und -verteuerung gekennzeichnet ist. Ich hätte durchaus für sinnvoll gehalten, die Anlagen noch eine Weile weiterzubetreiben, zumal wenn man Atomstrom aus Frankreich importiert.
Die Grünen schließen das aus. Sollte sich die FDP fügen oder noch ein bisschen Rabatz machen?
Jetzt ist die Sache offenbar erledigt. Das sollte kein weiterer Kriegsschauplatz sein.
Die Ampel hat sich viel mit internem Streit beschäftigt. Muss das sein?
Die Ampel muss darauf achten, die Bürger nicht zu verunsichern. Dazu müssen Vorschläge gut durchdacht sein und nicht vorschnell in die Öffentlichkeit gepustet werden. Das Schlimmste, was der Ampel widerfahren kann, ist, dass die Leute kein Vertrauen in sie haben. Man muss verlässlich und handlungsstark reagieren und nicht endlos untereinander auf offenem Markt diskutieren, wie jetzt über die Heizungen.
Wünschen Sie sich da mehr Engagement von Bundeskanzler Olaf Scholz?
Ja. Ich würde nicht sagen, dass er das Land schlecht regiert. Aber es gibt Defizite - in der Vermittlung nach außen und bei der Führung der Regierung. Warum muss das Kind erst in den Brunnen fallen, um dann von Scholz gerettet zu werden?
Als Finanzminister verweigert FDP-Chef Christian Lindner sich den Finanzforderungen für die Kindergrundsicherung. Fehlt der FDP die soziale Ader?
Leider sitzt der Vorwurf tief, die FDP sei eine unsoziale Klientelpartei. Auch ich wünschte mir oft mehr Sozialliberalität - aber sie ist in wichtigen Teilen der FDP vorhanden. Gerechtigkeit ist ein Freiheitsthema. Die FDP muss besonders darauf achten, Empathie zu zeigen. Sie ist oft zu kalt, zu rational. Sie lehnt ab, ohne eine Alternative sichtbar zu machen. Hier geht es um Kinder in prekären Situationen. Vermittelt werden muss, dass es nicht nur um Leistungserhöhungen geht, sondern um ein Gesamtpaket, mit dem junge Menschen eine Zukunft eröffnet werden kann. Ein Konzept der Familienministerin dazu sehe ich noch nicht.
Die FDP achtet besonders auf die Betonung von Freiheit.
Das ist richtig. Die FDP trägt die Tradition der Freiheit in sich: Die beeindruckende Volksbewegung hin zur Demokratie 1848 ist eine ihrer Wurzeln. Die FDP ist die Freiheitspartei. Aber der Begriff alleine reicht nicht, er muss ausgefüllt werden. Freiheit ist untrennbar mit Verantwortung verbunden und mit sozialer Gerechtigkeit. Es ist jetzt sehr wichtig, dass die FDP in der größten weltweiten Krise seit 1945 ihre Identität definiert. Was bedeutet es jetzt, eine Freiheitsbewegung mit Tradition zu sein? Die FDP braucht es eine Grundsatzdiskussion, auch mit der Gesellschaft. Einzelmaßnahmen aufzureihen, das reicht nicht. Es ist der Vorsitzende, der einen solchen Prozess anstoßen muss.
Ist das Ihre Erwartung an den Bundesparteitag diese Woche?
Ich würde mich freuen, wenn Christian Lindner so eine Rede hält. Durch die letzten Beschlüsse der Koalition hat die FDP etwas Luft bekommen. Aber sie darf sich nicht täuschen: Die Diskussion über ihre Rolle ist nicht zu Ende. Die FDP darf keine Gelegenheit auslassen, um ihren Modernisierungs- und Gestaltungswillen deutlich zu machen. Man darf sich nicht nur an den Schwierigkeiten der Ampel abarbeiten. Und es wäre falsch, sich auf Themen zu beschränken, für die es ein FDP Bundesministerium gibt. Ich erwarte Signale in der Außen- und der Europapolitik, die mit Personen verbunden werden müssen. Die FDP muss einen umfassend angelegten Liberalismus präsentieren. Dafür braucht es auch Spielraum für mehr interne Diskussionen. Wir müssen schließlich auch Intellektuelle wieder an uns binden.
Ist Christian Lindner dafür der richtige Parteichef? Als Finanzminister hat er ja noch anderes zu tun.
Ich wüsste nicht, wer ihn jetzt ersetzen könnte. Aber es müssen noch mehr Köpfe nach vorn.
Auf dem Parteitag werden die Führungsgremien gewählt. Halten Sie Neubesetzungen für nötig?
Eine Personalie schmeckt mir überhaupt nicht: Wolfgang Kubicki will erneut stellvertretender Vorsitzender werden. Ich will gar nicht zu seinen manchmal doch sehr irritierenden Äußerungen Stellung nehmen. Aber ich möchte sagen: Er ist ein alter Mann. Und er ist nicht die Zukunft der FDP. Er sollte Platz machen für den Nachwuchs, etwa für eine Frau, eine Frau aus der jungen Generation. Wir brauchen mehr Jugend im Präsidium. Das würde ich mir wünschen.
Manche in der FDP halten Kubicki mit seinem Hang zu Lautstärke und Polarisierung für einen Wählermagnet.
Manche Leute klopfen sich natürlich auf die Schenkel, wenn sie seine streitbaren Äußerungen hören. Aber Wolfgang Kubicki schreckt auch Menschen ab. Dafür könnte ich x Beispiele nennen. Ein stabilisierendes Element ist er jedenfalls nicht. Er polarisiert.
Sie sind stark mit innenpolitischen Themen verbunden. Sie haben erfolgreich gegen den großen Lauschangriff und das Luftsicherheitsgesetz geklagt. Wie steht es um den Datenschutz in Deutschland?
Von der künstlichen Intelligenz geht eine große neue Gefahr aus. Die FDP sollte Schutz der Menschenwürde gegen Datenmissbrauch zu einem Schwerpunkt machen - und auch den Schutz unserer Gesellschaften, in denen Wahlen durch Datenmanipulationen beeinflusst werden und Erpressung durch Cyberkriminalität eine ernste Gefahr ist. Kriege werden, wie (der einstige US-Außenminister, Anm.d.Red.) Henry Kissinger schon vor Jahren gesagt hat, nicht mehr allein durch Raketen und Flugzeuge entschieden, sondern durch Software. Fundamentale Rechte stehen auf dem Spiel - da muss Mäkelei am Datenschutz aufhören.
Zurück zur FDP: Union und FDP galten mal als Lieblingskoalitionspartner. Jetzt kritisiert man sich gegenseitig mit Hingabe. Ist das enttäuschte Liebe?
Die Union agiert da scheinheilig. Wenn CDU/CSU mit den Grünen koalieren würden, würden sie Zugeständnisse machen ohne Ende - Zugeständnisse, die sie uns jetzt übel nehmen.
Befürchten Sie keine Abwanderung von Wählern zur Union?
Wir können uns doch nicht Friedrich Merz oder Markus Söder anpassen. Wir sind eine liberale Partei, CDU/CSU sind das nicht. Und wir sollten uns erinnern, welche Schwierigkeiten wir auch mit der Union hatten, wenn wir mit ihr regiert haben. Das war doch manchmal eine merkwürdige „Liebesheirat“. Justizminister Marco Buschmann mit seiner überzeugenden Rechtspolitik hätte mit der Union seine liebe Not.
Die Union wirft der Koalition vor, mit ihrer Reform des Staatsbürgerschaftsrechts die deutsche Staatsbürgerschaft zu „verramschen“.
Das ist dummes Zeug. Man muss nun endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Wenn ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung eine andere Herkunft hat, lässt sich das nicht einfach übergehen. Und wir brauchen auch noch erheblich mehr Zuwanderer- als Arbeitskräfte und als Zahler in die Sozialversicherung.
Ist die FDP gefeit davor, bei den nächsten Wahlkämpfen mit dem rechten Rand zu flirten?
Es gab da diese unsägliche Geschichte in Thüringen und einige Misstöne in der Asyldebatte. Aber das hat sich gegeben.
Sie meinen den FDP-Politiker Thomas Kemmerich, der sich nach der Landtagswahl 2020 von der AfD zum Ministerpräsident wählen ließ und den Posten erst nach einigem Zögern aufgab. Kemmerich will wohl 2024 erneut kandidieren. Wie sollte die FDP damit umgehen? Und was passiert, wenn sich 2020 wiederholt?
Das wird sich hoffentlich so nicht wiederholen. Ich kann es mir jedenfalls nicht vorstellen. Ich würde mir wünschen, dass er nicht kandidiert. Seine Wahl seinerzeit hat de FDP Vertrauen gekostet und die Mandate in der Hamburger Bürgerschaft.
Eine letzte Frage: Die FDP hat einen auffällig geringen Frauenanteil. Woran liegt das?
Das liegt daran, dass die Frauen in der FDP auf die Gutwilligkeit der Männer setzen. Sie tun das seit Jahrzehnten ohne sichtbaren Erfolg. Sie können ja jetzt einen Test machen: eine Frau statt Kubicki. Die FDP-Frauen wehren sich gegen die Quote. Quote heißt aber nicht Verzicht auf Qualität, sondern endlich Gleichberechtigung.