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Interview mit Hendrik Streeck„Angst ist schwer kontrollierbar und gut manipulierbar”

Lesezeit 8 Minuten

Bekam für seine Studie viel Gegenwind: Hendrik Streeck

  1. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck ist in der Coronakrise zu einem der bekanntesten Virologen Deutschlands geworden.
  2. Für seine Corona-Studie in Heinsberg erntete er auch Kritik. Im Interview erklärt er, wie er mit Attacken von Boulevardmedien umgeht und was er daraus gelernt hat.
  3. Er reflektiert auch seine Instrumentalisierung im Kampf zweier Ministerpräsidenten: Armin Laschet und Markus Söder.

Herr Streeck, als Sie sich entschlossen haben, Virologe zu werden: Hätten Sie sich da vorstellen können, dass man es mit der Vorabversion einer wissenschaftlichen Studie auf die Titelseite einer Boulevardzeitung schafft – und dann noch auf das Heftigste attackiert wird?

Nein. Dass man bei Erforschen einer Pandemie etwas herausgefunden hat, das auch Boulevardmedien interessiert, damit hätte ich schon gerechnet. Aber dass man allein für Daten kritisiert wird, die man herausgefunden hat – und das habe ich ja am eigenen Leib erfahren – damit hätte ich nicht gerechnet.

Einem Kollegen, dem Charité-Virologen Christian Drosten, ist das in dieser Woche passiert – wegen einer Studie, die nahelegt, dass Kinder genauso ansteckend sein könnten wie Erwachsene. Ist das, was ihm widerfahren ist, noch eine kritische Beobachtung der Wissenschaft oder der Versuch einer medialen Vernichtung?

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Man muss da differenzieren. Die Methode ist von fünf Statistikern kritisiert worden, und diese Kritik kommt nicht von ungefähr. Das ist etwas, dessen man sich als Wissenschaftler annehmen und im Dialog mit Kollegen, im Peer-Review-Verfahren, beantworten muss. Das Problem ist der Zeitpunkt, zu dem die Studie erschienen ist: Das war im Zusammenhang mit der Entscheidung zur Wiedereröffnung der Schulen – mit einer Empfehlung im Manuskript. Und da ist einem – und das war auch bei mir so – nicht klar, in welche politische und mediale Gemengelage man sich da begibt.

Viele Kinder und Eltern ersehnen einen normaleren Schulbetrieb, die Studie wirkte dagegen wie eine Mahnung. „Bild“ kritisiert sie als „grob falsch“, woraufhin sich wieder die Wissenschaftler, die „Bild“ zitiert, von dem Bericht distanzierten.

Von der Art der Berichterstattung würde auch ich mich distanzieren. Aber es ist auch schwer, zwischen berechtigter Kritik und dem, was dann medial daraus gemacht wird, zu trennen. Am Ende jedenfalls spielen die fünf Statistiker, Kollege Drosten und ich in einem Team, nämlich im Team Wissenschaft. Am Ende des Tages sind wir ein Stand, und wir werden auch am Ende zusammenstehen. Ich fühle mit ihm, das ist eine sehr unangenehme Situation, in der er sich befindet.

Ihre Studie zum Ausbruch in Heinsberg ist international breit rezipiert worden. Sie war die Erste dieser Art, wurde Vorbild für andere Studien. In Deutschland dagegen sind Sie viel kritisiert worden, Solidarität – wie Sie jetzt Ihr Berliner Kollege erfährt – fehlte. Wie erklären Sie sich das?

Ich habe darauf keine Antwort. Aber es ist eine Frage, die mich wirklich beschäftigt: Warum es auf der einen Seite trotz berechtigter Kritik viel Unterstützung von Medien und auch sonst gibt, während einem auf der anderen Seite niemand zur Seite springt. Die inhaltliche Kritik an unserer Studie – und um die geht es ja am Ende – hat jedenfalls nicht standgehalten. Daher kooperiere ich mit dem Robert-Koch-Institut für Kupferzell oder den Kollegen der Studie in Neustadt am Rennsteig.

…zwei geplanten Antikörperstudien, die klären sollen, wie hoch die Dunkelziffer an durchgemachten Infektionen ist…

Ich wäre ja nicht als Kooperationspartner angeführt, wenn ich vorher eine schlechte Studie abgeliefert hätte.

Welche Konsequenz haben Sie aus dieser Erfahrung gezogen?

Dass ich mich rein auf die Daten- und Forschungsergebnisse beziehe und mich hüte, irgendwelche Empfehlungen zu geben. Es steht einem Wissenschaftler auch nicht zu, über das Bauchgefühl zu reden. Ein Bauchgefühl dürfen die Menschen haben, die für ihre Einschätzung gewählt wurden, aber nicht Wissenschaftler.

Haben Sie eine Erklärung für dieses so schwierige Verhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit? Warum es nur wahlweise Verdammung oder Bewunderung zu geben scheint?

Ja. Der wichtigste Faktor, über den wir reden, ist die stärkste Emotion: Angst. Angst ist ganz schwer kontrollierbar – und zugleich gut manipulierbar. Daher hofft man als Anker auf die Objektivität der Forschung. Aber wenn die Ergebnisse nicht dem entsprechen, was die Menschen hören wollen oder die Angst widerspiegelt, dann wird gesagt, es sei falsch oder gekauft.

War es ein Missverständnis, dass man Sie bei der Heinsberg-Studie nah an der nordrhein-westfälischen Landesregierung und dem Ministerpräsidenten Armin Laschet wähnte?

Ja, das ist ein vollkommenes Missverständnis. Ich hätte die gleiche Forschung gemacht, wenn ich in Thüringen oder Bayern gewesen wäre. Das Interessante ist ja, dass man so eine Studie gar nicht anders als komplett ergebnisoffen durchführen kann. Weil es eine vollständige Trennung gibt zwischen dem, der über die Daten verfügt, und dem Studienleiter.

War die Zusammenarbeit mit einer PR-Agentur im Nachhinein ein Fehler?

Sehen Sie, jeder Journalist, jedes Medium, wollte das medial begleiten, als wir die Studie durchgeführt haben. Und gleichzeitig haben Sie die ganzen Anfragen von Bürgern, von Mitarbeitern. Ich habe gemerkt, was für ein öffentlicher Druck auf einem liegt. Wenn dann ein Freund sagt: Hey, wir machen das für Dich, kostet auch nichts, und wenn das der Bevölkerung die Möglichkeit gibt, dir medial über die Schulter zu schauen – dass man dann „ja“ sagt: Daran ist nichts Verwerfliches.

Die Instrumentalisierung im Kampf zweier ehrgeiziger Ministerpräsidenten war Ihnen nicht bewusst?

Das hätte ich im Nachhinein wahrscheinlich noch mehr hinterfragt. Aber es ist eigentlich nicht mein Job als Virologe, mir bei solchen Fragen den Kopf zu zerbrechen. Das ist ja eigentlich für die Soziologen und PR-Berater, und ich finde es krass, dass die Studie aus diesem Gesichtspunkt mehr beleuchtet wird als die Ergebnisse der Studie selber, die weltweit erste dieser Art.

Die Kampagne in dieser Woche entzündete sich nicht zufällig an einem extrem umstrittenen Thema: der Infektiösität von Kindern. Was können Sie aus Ihrer eigenen Studie dazu sagen?

Eigentlich gar nichts. Das liegt daran, dass viele Eltern eine Blutentnahme bei Kindern abgelehnt haben. Aber wir sehen einen Trend von weniger Infektionen bei Kindern. Der zweite Hinweis sind die Infektionen im Haushalt. Im Zwei-Personen-Haushalt liegt die Gefahr einer Ansteckung bei 43 Prozent. Im Vier-Personen-Haushalt liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine weitere Person infiziert, für jede Person bei etwa 18 Prozent. Das kann daran liegen, dass man sich leichter aus dem Weg gehen kann, wenn man in Quarantäne ist. Es kann aber auch daran liegen, dass sich die Kinder weniger häufig infizieren. Wir wissen es nicht.

Welche Studien und Befunde zur Infektiösität von Kindern überzeugen Sie?

Letztlich kann keine Studie an sich diese Frage beantworten. Auch ein Rachenabstrich sagt ja nichts über einen Viruslastvergleich aus, weil es auch davon abhängt, wie man abstreicht. Es mehren sich derzeit die Studien, die zeigen, dass es weniger Infektionen bei Kindern gibt. Aber das ist bisher eine sehr schwache Datenlage.

Sind die Forderungen von Kinder- und Jugendärzten nach einer Öffnung der Schulen und Kitas somit aus Ihrer Sicht berechtigt?

Aus der virologischen Perspektive kann man nur sagen: Wir wissen es nicht. Daher muss die Entscheidung bei anderen liegen, die das Für und Wider besser abwägen können und bei denen es dann auch um andere Fragestellungen geht. Auch ein Virologe kennt sich zum Beispiel nicht wirklich mit der Hygiene in der Schule aus.

Woran arbeiten Sie gerade?

Wir haben sehr viele Dinge, die wir noch als Teil der Studie analysieren. Zum Beispiel haben wir uns die Karnevalssitzung noch mal vorgenommen: Wer hat wo gesessen, wer hat sich infiziert, wie hat sich die Infektion weiterverbreitet? Dann versuchen wir, die Immunität besser zu verstehen. Wenn wir die Immunität verstanden haben, können wir auch sehr viel besser einen Impfstoff generieren. Wir wissen viel zu wenig über das Immunsystem.

Dann wäre auch ein Immunitätsausweis eine schwierige Idee?

Den Immunitätsausweis sehe ich kritisch. Auch zum Anfang der HIV-Infektionen wurde diskutiert, dass sich HIV-Positive ausweisen sollten. Ein Immunitätsausweis kann sehr schnell zur Stigmatisierung führen. Zudem wissen wir nicht, ob eine gemessene, theoretische Immunität tatsächlich eine reale Immunität hervorruft. Oder es hat jemand einen grenzwertigen Wert: Ist der immun oder nicht?

Ihr Spezialgebiet ist eigentlich das HI-Virus, gegen das es bis heute keinen Impfstoff gibt. Wie zuversichtlich sind Sie, dass es gegen Corona je einen geben wird?

Jede Vorhersage für einen Impfstoff ist nicht seriös. Es gibt bislang gegen kein Coronavirus einen Impfstoff. Gegen HIV wurden schon über 500 Impfstoffe konstruiert, wenige auf Effektivität getestet aber keiner hat funktioniert.

Das heißt, man tut gut daran, sich auch darauf vorzubereiten, dass es diesen Impfstoff nie geben wird?

Ja. Das Virus ist da und wird bleiben. Und wir müssen uns darauf einstellen, damit umzugehen.

Was heißt das für unseren Umgang damit?

Wir müssen uns in den nächsten Monaten fragen: Welche Maßnahmen sind sinnvoll, welche nicht? Es ist ja interessant zu sehen, dass wir trotz der Lockerungen keinen Anstieg der Infektionen haben, dass wir mittlerweile mit der Zahl der Erkrankten unter 10.000 sind und wir schon einen Rückgang des R-Wertes hatten, als die Maßnahmen noch gar nicht gegriffen hatten. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir sehr viel mehr auf diese Großevents fokussieren müssen. Die zu unterbinden scheint am ehesten was gebracht zu haben.

Rechnen Sie mit einer zweiten Welle?

Ich vermute, dass wir immer mal wieder lokale Ausbrüche wie zuletzt in Leer oder Frankfurt haben. Das wird vielleicht im Herbst auch vermehrt und überraschend geschehen – aber ich glaube nicht, dass wir eine zweite Welle sehen werden, die uns regelrecht überschwemmt und überfordert.

Das Interview führte Thorsten Fuchs