Berlin – Ein Sieg von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in der Mitgliederbefragung um den Parteivorsitz, das sei der Brexit-Moment für die SPD. So haben es Abgeordnete der Bundestagsfraktion in den vergangenen Tagen unter der Hand gesagt. Aus den Worten sprach die feste Überzeugung, dass es komplett irrational wäre, wenn die Mitglieder sich mehrheitlich für Kandidaten entschieden, die kaum Erfahrung für den Job mitbringen.
Jetzt ist genau das passiert, was sich viele im Parteiestablishment nicht vorstellen konnten oder wollten. Der Generalfrust über die große Koalition hat sich im parteiinternen Sieg der Bundestagsabgeordneten Esken und des früheren NRW-Finanzministers Walter-Borjans über Vizekanzler Olaf Scholz und seine Duopartnerin Klara Geywitz entladen. Und das in einem Moment, in dem die Sozialdemokraten mit der Grundrente gerade einen Riesenerfolg in dem Regierungsbündnis erzielt haben. Das ist ein Bruch mit der SPD, wie wir sie bisher kannten.
Eine Fehlkalkulation führender Köpfe
Es zeigt sich jetzt: Die führenden Köpfe in der Partei haben sich verrechnet. Es wäre klug gewesen, aus ihren Reihen wäre jemand anderes angetreten als Scholz, der zwar als Vizekanzler gute Umfragewerte in der Bevölkerung hat, die Partei aber emotional nicht erreicht. Gemessen an dem Ergebnis muss sich jetzt auch der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil noch einmal fragen lassen, warum er eigentlich nicht angetreten ist. Er hätte bessere Chancen gehabt als Scholz, die Partei auf Kurs zu halten.
Esken und Walter-Borjans stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Sie müssen zu einem klaren Kurs in Fragen der großen Koalition finden. Während Walter-Borjans sich hier stets etwas offener für eine Fortsetzung gezeigt hat, machte Esken vor der Stichwahl klar: Eine Fortsetzung sei nur bei Nachverhandlungen zum Koalitionsvertrag denkbar. Nur: Warum CDU und CSU den Sozialdemokraten nach ihrem Einlenken bei der Grundrente noch einmal erheblich entgegenkommen sollten, erschließt sich nicht.
Die Gefahr eines Absturzes
Der SPD könnte im Fall rascher Neuwahlen ein tiefer Sturz drohen. Erstens gibt es in diesem Fall keine überzeugende Lösung für die Kanzlerkandidatenfrage. Schwerer noch wiegt: Viele Bürger würden es der SPD übel nehmen, wenn sie die Regierungsverantwortung ohne guten Grund wegwirft. Das könnten viele als Aufforderung verstehen, lieber CDU oder Grüne zu wählen.
Esken und Walter-Borjans hätten es ohne die Unterstützung von Juso-Chef Kevin Kühnert vermutlich nicht in die Stichwahl geschafft. Jetzt haben sie klar gewonnen. Doch wenn sie eine Chance haben wollen, erfolgreich zu sein, müssen sie auf das gegnerische Lager zugehen. Es muss ihnen gelingen, mindestens einen prominenten Vertreter des anderen Kurses für einen Stellvertreterposten zu gewinnen. Sie sind auf die Erfahrung derjenigen angewiesen, die schon lange in Partei und Regierung Verantwortung tragen. Die Partei kann sich Partisanenkämpfe nicht leisten.
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Für die SPD geht es jetzt ums Überleben. Der Blick in andere europäische Länder zeigt: Es ist nicht selbstverständlich, dass die Sozialdemokraten eine relevante Kraft bleiben. Es geht jetzt darum, dass von der Volkspartei Willy Brandts auch in ein paar Jahren noch etwas übrig ist. Daran sollten Esken und Walter-Borjans bei jedem Schritt, den sie machen, denken.