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Deutschland im KrisenmodusHeizen, Essen, Wohnen, Reisen – wer soll das bezahlen?

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Ein paar Grad weniger machen bereits einen Unterschied beim Gasverbrauch. 

Berlin – Krieg, Krise und Inflation bedrohen den selbstverständlich geglaubten Alltagskomfort in Mitteleuropa. Heizen, Essen, Wohnen, Duschen, Reisen – alles wird zum Problem. Massive Existenzängste lähmen die Mittelschicht. Die nächste Pandemie heißt Unsicherheit, meint Imre Grimm.

Mario Gambarin hat ein Bild gemäht. Es ist die riesenhafte, staubige Darstellung eines Wassertropfens – darunter das Wort „Wasser“. Mit seinem Trecker hat der Bauer sein Werk in die vertrockneten Maispflanzen seines norditalienischen Ackers gefurcht. Es ist ein Hilfeschrei. Eine ganze Region südlich der Alpen verdorrt. Seit Monaten ist in der Po-Ebene kaum ein Tropfen Regen gefallen. Es ist die schlimmste Dürre seit 70 Jahren. Von „apokalyptischen Zuständen“ ist die Rede. Manche Landwirte sind so verzweifelt, dass sie das Wasser ihres Nachbarn stehlen.

Ressourcen werden knapp und knapper

„Ressource“ bedeutet „Quelle“. Das Wort stammt vom lateinischen „resurgere“ („hervorquellen“). Es bezeichnet die natürlichen Treibmittel des Lebens, die Grundlagen also von allem. Das Wort hat eine besondere Bedeutung in diesen Monaten. Denn die Ressourcen, von denen Wasser ja nur eine ist, werden knapp. Oder unbezahlbar. Oder beides. Nicht nur in Afrika, dem am meisten mit Mangel assoziierten Kontinent.

Nicht nur auf Haiti oder in Bangladesch. Sondern auch in Mitteleuropa, wo man doch glaubte, gewisse Grunderrungenschaften der Moderne seien in unserem Alltag unwiderruflich: Wenn wir den Hahn aufdrehen, läuft warmes Wasser. Wenn wir die Heizung aufdrehen, wird es warm. Das Klima ist mild und übersichtlich. Die EU garantiert Frieden. Im Supermarkt gibt es immer günstig Nahrung. Wohnen soll nicht mehr kosten als ein Drittel des Monatsnetto. Und Kaminöfen sind höchstens noch eine wohlige (wenn auch umweltschädliche) Reminiszenz an alte Zeiten und den wohlig brummenden Urmenschen in uns.

Der ständige Kampf: Wer soll das alles bezahlen?

Doch plötzlich ist all das nicht mehr garantiert. Wasser. Wärme. Nahrung. Mobilität. Frieden. Plötzlich kostet ein Festmeter Holz 200 Euro, Markenbutter bis zu 3 Euro – und Diesel ist teurer als Benzin. Worunter von Armut Betroffene schon immer leiden, das wird zum Mehrheitsphänomen auch für Millionen aus der Mittelschicht: Es ist die lähmende, nagende Ungewissheit in allen Fragen der eigenen Existenz. Die Unplanbarkeit des Lebens. Der ständige Kampf: Wie soll es weitergehen? Wer soll das alles bezahlen?

Ungläubig verfolgt das Publikum, wie sich Wirtschaftsvertreter in der „Tagesschau“ öffentlich um die knappe Ressource Gas balgen. „Milch ist wichtiger als Wärme“, findet der Cheflobbyist der Milchwirtschaft. Nein. Doch. Nein. Doch. Das Konzert der Schuldzuweisungen schwillt an und wieder ab. Derweil fliegt CDU-Chef Friedrich Merz im Privatflieger zu Finanzminister Christian Lindners Hochzeit auf Sylt. 63 Prozent der Deutschen gaben in einer „Spiegel“-Umfrage an, in der Gaskrise „große“ oder „eher große“ Sorgen zu haben. Gewiss, vieles ist noch Alarmprognose, manches noch Befürchtung. Niemand weiß, wie schlimm es wirklich wird. Doch Alarmzeichen gibt es zuhauf.

„Wir stehen vor der größten Krise, die das Land je hatte“

Die Preise steigen ja nicht bloß – sie explodieren. Die Inflation liegt bei knapp 8 Prozent. Tomaten, Gurken, Roggenmehl, Sonnenblumenöl, Margarine oder Eier kosten 25 Prozent mehr als vor einem Jahr. Erdöl, Holz, Stahl, Aluminium, Nickel, Silizium, Kunststoffe, Kupfer, Magnesium und Papier sind knapp. Die Bundesnetzagentur rechnet für 2023 mit dreimal so hohen Gaskosten. Vermieter legen Warmwasserzeiten fest. Die Bundesregierung rät Unternehmen zum Kauf von Notstromaggregaten. Der Euro ist auf Dollarniveau gesackt.

Erste Kommunen wie Ludwigshafen planen „Wärmehallen“ für den Winter „mit 5000 Betten und 5000 Schlafsäcken“. Wirtschaftsminister Robert Habeck rät zur Expressdusche („Ich hab‘ noch nie in meinem Leben fünf Minuten lang geduscht“). Kachelöfen boomen. An den Flughäfen und bei der Bahn herrscht Personalchaos. In Großbritannien versehen Supermärkte Butter und Käse mit Diebstahlschutz-Sensoren, die am Ausgang piepsen. Auch dort wütet die schlimmste Inflation seit Jahrzehnten.

Begriffe, die nach Weltwirtschaftskrise klingen

Rationierung. Wärmestuben. Inflation. Kachelofen. Kalte Dusche. Es sind Begriffe wie aus einer überwunden geglaubten, kargen Vergangenheit. Sie klingen nach Weltwirtschaftskrise, nach Schwarzweißbildern von Tausenden Arbeitslosen mit Hüten und großen Augen, nach Suppenküchen, Bauchtafeln mit der Aufschrift „Mache jede Arbeit“ und Eiern, die 1,2 Billionen Mark kosten.

„Wir stehen vor der größten Krise, die das Land je hatte“, sagt Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger in der „Süddeutschen Zeitung“. „Wir müssen uns ehrlich machen und sagen: Wir werden den Wohlstand, den wir jahrelang hatten, erst mal verlieren.“

Die Inflation treibt mehr Menschen in die Armut als Corona

Es ist dies keine ganz neue Erkenntnis für jeden, der aktuell einen Haushalt zu führen hat. Viele Menschen zahlen bereits mehr als die Hälfte ihres Einkommens für das Wohnen. Die steigende Inflation treibt weltweit mehr Menschen in die Armut als die Corona-Pandemie, warnten in diesen Tagen die UN.

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Wer hätte vor wenigen Monaten sagen können, dass die deutsche Winterbehaglichkeit von einem russischen Rohr mit 115 Zentimetern Durchmesser abhängt, das so lang ist wie der Rhein, 250-mal so schwer wie der Eiffelturm und in Lubmin endet? Aber Putins „kalter Krieg“ rund um die Pipeline Nord Stream 1 ist ja nur ein Baustein in einer multiplen Krise, die tief hinein in den Alltag der saturierten Wohlstandsnation reicht. Der Boden der Gewissheiten, auf dem die westliche Gesellschaft sicher zu stehen glaubte, ist mächtig ins Schwanken geraten. Erst die Pandemie. Dann die Angst vor einem neuen Atomkrieg. Jetzt die Versorgungskrise. Das ohnehin schon schrundige, erschöpfte Land taumelt von einer Not in die nächste.

Es geht dabei nicht um Luxusprobleme. Es ist nicht nur die Angst um den Wohlstand, die wächst. Es ist die Angst um die Grundlagen des Lebens selbst, um all die basalen Errungenschaften der Moderne. Wann war der letzte Winter, in dem man hierzulande wirklich massenhaft fror? 1947?

Habeck, der „Zuchtmeister am Heizungsregler“

„Die Welt bewegt sich rückwärts“ heißt es in einem aktuellen UN-Bericht zum Hunger in der Welt. Es ist genau dieses Gefühl, das so viele ermattet – ausgerechnet jetzt, in einer Zeit, in der sich Gesellschaften wie die deutsche dringend mit viel Elan digitalisieren, modernisieren, für die Zukunft umrüsten müssten. Doch wie soll man angesichts des Chaos an Flughäfen und Bahnhöfen eine Verkehrswende organisieren? Wie soll man Menschen, die gerade verzweifelt nach einem gebrauchten Fahrradhelm für ihre Kinder suchen oder für die letzten paar Euro getankt haben, um zur Arbeit zu kommen, für ein abstraktes 1,5-Grad-Ziel sensibilisieren?

Die Bundesregierung warnt mit großer Beharrlichkeit vor der Ernsthaftigkeit der Lage. Robert Habecks Tipps zum Energiesparen wirken fast unfreiwillig zynisch, denn natürlich ist die Gaskrise in erster Linie eine politische und keine individuelle Frage. Gewiss hilft es, den Deckel auf den Topf zu machen und den Topf dann bitte mittig auf das Kochfeld zu stellen sowie alle Stand-by-Geräte im Urlaub auszustöpseln, wie es der grüne Bundeswirtschaftsminister vorschlug, von Linksfraktionschef Dietmar Bartsch dafür als „Zuchtmeister am Heizungsregler“ gegeißelt.

Politische Poltergeister wie Wolfgang Kubicki (FDP) donnerten prompt, sie duschten selbstverständlich „bis sie fertig seien“. Man lässt sich doch von Habecks volkserzieherischer Übergriffigkeit nicht das Vergnügen im warmen Wasserstrahl versauen! Das politische Versagen freilich fand lange vorher statt: als man sich sehenden Auges in die Abhängigkeit von den Launen eines Despoten begab.

„Wir können einfach nicht immer mithalten“

Es geht in der vielschichtigen aktuellen Krise um viel mehr als die Frage, ob Raumtemperaturen von 16 Grad in der Nacht gefälligst reichen sollten oder nicht (und was eigentlich die Stewardess dazu sagt, die nachts um drei Uhr von der Arbeit kommt). Es geht um die schleichende, bittere Erkenntnis, dass das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft auf Teilhabe und Aufstieg bei akkurater Lebensführung und tugendhaftem Fleiß wahrscheinlich für einige Generationen nicht mehr erfüllbar sein wird.

In den Jahren zwischen 2014 und 2017 rutschte in Deutschland laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) jeder Fünfte in Deutschland aus der mittleren in die untere Einkommensschicht. Das ist nicht neu. Aber es ist so spürbar wie nie zuvor.

Mittelschicht-Familie fehlen jetzt bis zu 500 Euro pro Monat

Catrin H. aus Norddeutschland ist Mutter von drei Söhnen (6, 8 und 9) und Minijobberin, ihr Mann ist Schlosser in Vollzeit. Klassische Mittelschicht. „Durch die wahnsinnig gestiegenen Lebenshaltungskosten fehlen uns jetzt 300 bis 500 Euro“ im Monat, rechnet sie gegenüber dem Evangelischen Pressedienst vor. Das fehlende Geld bedeute auch: weniger Teilhabe. „Wir können einfach nicht immer mithalten, der Freundeskreis ist kleiner geworden.“ Auch ihr graut vor der Nachzahlungsrechnung der Energieversorger im kommenden Jahr.

Sitzen wir bald wieder mit dem Holzlöffel am Kachelofen?

Menschen müssen atmen, essen, trinken, schlafen. Dann bleibt ihr Körper am Leben. Doch auch die Seele hat Bedürfnisse, und auf der Wunschliste der emotionalen Grundversorgung steht Sicherheit ganz oben. Die Zukunft halbwegs planen zu können, keine plötzlichen Gefahren fürchten zu müssen, Frieden und Stabilität zu erleben, geborgen zu sein und gleichzeitig die Freiheit zur Selbstentfaltung zu verspüren – das sind Voraussetzungen für Momente des Glücks.

Doch all das stellt die Gegenwart massiv infrage. Das setzt eine Angstspirale in Gang, ganz im Geiste des britischen Philosophen Bertrand Russell, nach dessen These sich Menschen mehr vor der Unsicherheit fürchten als vor der Gefahr selbst. Denn Unsicherheit erzeugt neue Angst – und umgekehrt. Das ist das Perfide an den vielen Krisen der Zeit: Sie sind unkalkulierbar. Wann kommt wieder Gas? Wie teuer wird Benzin? Muss ich ausziehen, weil ich mir das Heizen nicht mehr leisten kann? Sitzen wir bald wieder mit dem Holzlöffel am Kachelofen?

Im Dunkeln, sagt der Risikoforscher Ortwin Renn im Deutschlandfunk, hätten Menschen auf der Straße mehr Angst vor Kriminalität als tagsüber – und das, obwohl statistisch die meisten Verbrechen tagsüber begangen werden. Man fühle sich aber bedrohter, weil man nachts die Umgebung schlechter abschätzen könne. So gesehen befindet sich die Welt in einem emotionalen Zustand der Dunkelheit – unübersichtlich, düster und diffus. „Es ziehen dunkle Wolken über Deutschland auf“, sagte auch Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder. Es ist der perfekte Nährboden für neue Angst, erst recht nach zweieinhalb Jahren Pandemie und angesichts eines Krieges, an dem die eine Supermacht direkt und die andere indirekt beteiligt ist.

„Wir stecken mitten in einem Epochenumbruch“

„Wir stecken mitten in einem Epochenumbruch“, sagte die Philosophin Natalie Knopp dem Magazin „Krautreporter“. Phasen der Ungewissheit aber erzeugen Stress, denn viele Menschen empfänden den damit verbundenen Kontrollverlust als extrem anstrengend. Es sei ein menschliches Grundbedürfnis, Faktoren der Unsicherheit auszuschalten: „Wir heiraten – ein Vertrag zweier Menschen bis zum Tod, wir schließen Versicherungen ab, zahlen in die Rentenkasse ein, wir wollen unbefristete Miet- und Arbeitsverträge. Das sind alles Vorkehrungen gegen die Unsicherheit.“ Die nächsten 20 Jahre aber würden „leichter für Menschen, die Unsicherheit aushalten können“.

Corona ist noch längst nicht geschafft. Aber so viel steht bereits fest: Die nächste Pandemie heißt Unsicherheit.