Die Band Rammstein hat in München ihr erstes Deutschland-Konzert seit den Anschuldigungen gegen Frontmann Till Lindemann gespielt. Wie reagierten die Fans darauf? Und die Band selbst?
So reagieren die FansRammstein verzichtet bei Konzert in München auf einen Song
Kurz bevor in München die ersten Bässe ertönen, geht eine Laola-Welle durchs Olympiastadion. Dann betreten fünf der sechs Bandmitglieder die Bühne. Und Till Lindemann: fliegt von oben in das Bühnenbild. Es ist kein Absturz, kein freier Fall. Er gleitet, die Arme ausgestreckt, nach unten. Mit blonder Irokesenfrisur und zwischen zwei Rauchexplosionen springt er zum Mikrofon. Und spätestens jetzt scheinen alle Zweifel verpufft. Rammstein rockt – wie immer. Und 60.000 Fans mit ihnen.
Wer dachte, Rammstein hätte ihre erste Deutschland-Show nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen ihren Frontsänger verändert, wird schnell vom Gegenteil überzeugt. Pyrotechnik blitzt auf, Flammen schießen in die Höhe, Konfetti flattert durch die Luft. Es knallt. Und es ist dieselbe Brachialkraft, dieselbe Symbolik und dieselbe Kostümierung wie immer.
Rammstein in München: Kein Wort zu den Vorwürfen gegen Lindemann
Ein Statement zu den mutmaßlichen Vorfällen? Das wäre nicht rammsteinlike. Und so verliert Rammstein-Sänger Lindemann während des Konzerts kein Wort zu den Vorwürfen gegen ihn. Dafür leistet er sich am Ende eine Provokation weniger. Aber dazu später mehr.
Fünf Stunden zuvor scheint in München die Sonne. Menschen in schwarzen T-Shirts strömen auf den Platz vor dem Olympiastadion und tragen Bierbecher vor sich her. Aus dem Inneren des Stadion dröhnen bereits Bässe. Vorfreude auf Rammsteins erstes Deutschland-Konzert der Stadiontour 2023 liegt in der Luft. Gleich vier Konzerte sollen hier nacheinander stattfinden – natürlich alle ausverkauft.
Fast könnte man meinen, es ist ein Rammstein-Konzert wie jedes andere auch. Unter den Besucherinnen und Besuchern macht sich Bierlaune und Euphorie breit. Doch es ist kein Rammstein-Konzert wie jedes andere. Es ist das erste Konzert in Deutschland seitdem mehrere Frauen in unterschiedlichen Medien schwere Vorwürfe gegen Frontmann Till Lindemann erhoben haben. Dabei soll es um strukturellen Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt gehen. Die Aussagen der Frauen ähneln sich größtenteils. Dem Sänger sollen demnach vor, nach und während Konzerten junge Frauen „zugeführt“ worden sein, um mit ihnen Sex zu haben. Einige Frauen berichten, nicht gewusst zu haben, dass es bei den Treffen auch um Sex gehen soll.
Rammstein-Konzert: „Row Zero“ gibt es in München nicht
Eine zentrale Rolle soll den Berichten zufolge eine Frau namens Alena Makeeva gespielt haben. Sie soll, so die Vorwürfe, junge Frauen für die sogenannte „Row Zero“ rekrutiert haben, einen abgetrennten Bereich direkt vor der Bühne. Von dort aus seien die Frauen zu speziellen Aftershowpartys eingeladen worden, wo ihnen ein Treffen mit Till Lindemann in Aussicht gestellt wurde. Auch in einem kleinen abgetrennten Raum unter der Bühne soll es während Konzerten zu sexuellen Handlungen zwischen Lindemann und weiblichen Fans gekommen sein. Einige Medien sprechen bereits vom „System Rammstein“.
Einige Konsequenzen wurden für das Konzert in München bereits gezogen. Eine „Row Zero“ gibt es nicht. Laut Medienberichten sei das Kreisverwaltungsreferat München (KVR) mit zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zum Konzert gekommen, um zu überwachen, dass keine Fans im Sicherheitsbereich direkt vor der Bühne waren. Auch die offizielle Aftershowparty wurde durch den Veranstalter abgesagt.
Rammstein spielt Konzert in München – das sagen die Fans
Aber wie reagieren die Fans darauf? Haben sie nach Bekanntwerden der Vorwürfe ein schlechtes Gewissen? Schnell wird ein Stimmungsbild deutlich: „Wir sind wegen der Musik hier“, sagen viele. So auch der 35-jährige Daniel, der mit seiner Freundesgruppe aus Karlsruhe angereist ist und auf einer Bierbank vor dem Stadion sitzt. Ein Satz, der bei einem Konzert eigentlich nicht verwundern sollte. Doch vor dem Hintergrund, dass es in den letzten Tagen bei Rammstein kaum um Musik ging, wirkt er fast wie eine Ausrede.
Generell, sagt Daniel, gebe es viel Gerede. „Viele versuchen ja auch einfach nur, mehr Follower zu bekommen“, sagt er und meint damit die Frauen, die die Vorwürfe gegen Lindemann in den sozialen Medien erhoben haben. Außerdem gelte die Unschuldsvermutung. Dennoch sei das natürlich nicht gut, falls die Anschuldigungen stimmen sollten.
„Wir wären stolz gewesen, wenn wir mitgehen dürften“
Christina sagt: „Groupies gab es schon immer.“ Die Vorwürfe gegen Lindemann würden sie weder überraschen, noch hätten sie Einfluss auf ihre Stimmung beim Konzert. Für sie und ihre Freundin Silvia ist es das erste Rammstein-Konzert. Dabei sind sie Fans der ersten Generation, wie sie sagen. „Wir wären stolz gewesen, wenn wir mitgehen dürften“, sagt Christina und lacht. „Nur dass wir mittlerweile über 40 sind und uns will keiner mehr.“ Was sie meint: Mit Lindemann im Hinterzimmer verschwinden zu dürfen, sehe sie als Kompliment.
Dass viele Frauen den Berichten zufolge nicht wussten, auf was sie sich einlassen, kann sie nicht glauben. Silvia stimmt ihr zu. „Wenn man sich darauf einlässt, weiß man was passiert“, sagt sie. Dass darüber nun eine Debatte entstanden ist, sei eine Generationsfrage, glaubt Christina. Heute würden die Frauen mehr als Frauen wahrgenommen wollen werden und seien sensibler was das Thema angeht.
Und selbst wenn etwas an den Vorwürfen dran sei, würde es ihr Einstellung zur Band nicht ändern, sagt Silvia. „Ich bin nun mal mit der Band aufgewachsen.“ Es ist eine Argumentation, die man an dem Abend öfter hört. Die Identifikation mit der Band wiegt schwerer als die Vorwürfe gegen ihren Star, die, so sagen viele, auch gar nicht bewiesen seien. Stattdessen zweifelt man lieber die Glaubwürdigkeit der mutmaßlichen Opfer an. Gleichzeitig betont Silvia: „Wenn wirklich Drogen im Spiel waren, dann geht das nicht. K.-o.-Tropfen sind scheiße.“
Anderen Fans ist die Lust auf das Konzert angesichts der Vorwürfe offenbar bereits vergangen. In sozialen Netzwerken gaben bis kurz vor Konzertbeginn Dutzende Nutzerinnen und Nutzer an, ihre Tickets wegen der Anschuldigungen zurückgeben zu wollen. Zum Teil sogar für einen günstigeren Preis: So waren Tickets, die original 108 Euro kosteten, für 85 Euro plus Servicegebühr erhältlich.
„Ich habe mit mir gehadert, hier her zu kommen“
Bernd und Nathalie (beide 34) stehen etwas Abseits der Menge zwischen zwei Bierständen und sind sich uneinig. „Ich habe schon sehr mit mir gehadert, hier herzukommen“, sagt Bernd. „Ich habe diese gelöste Stimmung nicht“, erklärt er. „Ich schon“, entgegnet Nathalie, „obwohl ich als Frau ja viel gefährdeter bin“. Sie lacht. Zwar wäre sie entsetzt, sollten sich die Vorwürfe bestätigen, „aber es würde meine Sicht auf die Band nicht ändern.“ Bernd sieht sich dagegen in einem „moralischen Zwiespalt“, sollten die Anschuldigungen wirklich wahr sein. „Dann wäre das etwas, was ich finanziell nicht unterstützen könnte.“
Eine Person aus dem direkten Rammstein-Umfeld bestätigte derweil einen Teil der Vorwürfe. Seit 2019 habe es die privaten Pre- und Aftershowpartys mit Till Lindemann gegeben, sagte die Person aus dem Umfeld der Band am Dienstagabend dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Dabei sei es auch zu Sex zwischen dem 60-Jährigen und den jungen Fans gekommen. Gleichzeitig betonte die Quelle, dass es sich um keine strafbaren Handlungen handle.
Rammstein-Fan Paul glaubt, dass die Band die Vorwürfe nicht überstehen wird. „Das ist ziemlich sicher das Ende von Rammstein“, sagt er. Die restlichen Bandmitglieder würden sich distanzieren müssen, was die Auflösung der Band bedeuten würde, so seine Prognose. Deswegen bereitet er sich bereits darauf vor, dass das Konzert im Münchner Olympiastadion sein letztes Rammstein-Konzert gewesen sein könnte.
Rammstein verzichtet auf Penis-Provokation
Ob es tatsächlich eines der letzten Rammstein-Konzerte war, ließ sich an der Show nicht erkennen. Sowieso ließ sich an dem Abend kaum jemand etwas anmerken. Die Band lieferte ihr Set – wie gewohnt. Manchmal feinfühlig, oft brachial. Und das Publikum feierte ihre Idole – wie gewohnt.
Auf eine Provokation verzichtete Rammstein dann aber doch. Die Kanone, die an einen Penis erinnert und sonst immer beim Song „Pussy“ weißes Konfetti abfeuert, gab es diesmal nicht. Das Lied wurde nicht gespielt. Das will etwas heißen. Denn für eine Band, die bisher vor keiner Provokation zurückschreckte und damit sogar berühmt wurde, ist das durchaus bemerkenswert.
Lindemann: „München, danke, dass ihr hier bei uns seid“
Am Ende des Konzertabends stehen die sechs Musiker nochmal nebeneinander auf der Bühne. Klaviermusik setzt ein, sie verbeugen sich und gehen auf die Knie. Eine traditionelle Rammstein-Geste, um sich beim Publikum zu bedanken. Lindemann greift nochmal zum Mikrofon und sagt den einzigen Satz des Abends: „München, danke, dass ihr hier bei uns seid.“ Ein kurzer Gruß ins Publikum, dann geht er von der Bühne.
Zu einer Solidaritätsaktion des Publikums kommt es entgegen einer ursprünglichen Ankündigung nicht. In den sozialen Medien hatte der Fanclub Rammstein Army die Besucherinnen und Besucher aufgefordert, den Kniefall am Ende zu erwidern, was die große Mehrheit der Fans aber nicht tat.
Um kurz nach Mitternacht, das Konzert ist längst vorbei, sitzen Sascha und Michael in einer Pizzeria in München-Neuhausen-Nymphenburg und warten auf Cardinale und Tonno. Die Show fanden sie „richtig super“, obwohl Michael eigentlich gar kein Rammsteinfan ist und nur wegen der Feuershow mitgekommen ist. Und weil Sascha ihn überredet hat. Dass es keine Penis-Kanonen-Show gab, findet zumindest Sascha „schon schade“.
Trotzdem geht er mit einem guten Gefühl nach Hause. „Seit 2005 habe ich darauf gewartet, live dabei zu sein. Endlich hat es geklappt.“ Ob es sein letztes Rammstein-Konzert gewesen ist? Das wisse er nicht. „Weiß ja keiner, wie das mit der Band weitergeht“, sagt er und wirkt plötzlich ein bisschen traurig.