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Nach Pisa-SchockSchul-Debatte in NRW – „Tablets im Unterricht machen Kinder dümmer“

Lesezeit 6 Minuten
Ein Erstklässler mit einem Tablet in der Klasse. 

Bildungsforscher fordern eine Debatte darüber, ab wann der Einsatz von Tablets an Schulen Sinn macht.

Schweden rudert bei der Digitalisierung der Grundschulen zurück. Forscher fordern Debatte auch in Deutschland. Wie sieht NRW das?

Wenn es um Vorbilder in Sachen Bildung und Schule ging, pilgerten Vertreter des deutschen Bildungswesens jahrelang nach Schweden und Finnland. Die Skandinavier galten als Vorbild für erfolgreichen Unterricht. Umso größer war im Dezember der Schock bei den einstigen Pisa-Musterländern: Denn die Leistungen sind dort besonders stark zurückgegangen. Einen zentralen Grund dafür sehen skandinavische Bildungsexperten darin, dass Schweden und Finnland es mit der Digitalisierung übertrieben haben.

Bereits vor fünf Jahren begann Schweden von der ersten Klasse an nur noch digitale Lernmaterialien zu nutzen und schon in der Grundschule so viel wie möglich mit Tablets und Apps zu arbeiten. Schon für Erstklässler wurden Schulbücher abgeschafft. Auch Finnland hat seine Schulen sehr früh komplett digital umgerüstet.

Jetzt wird dort zurückgerudert: Im Rahmen einer nationalen Leseinitiative hat die schwedische Regierung für 60 Millionen Euro Schulbücher drucken lassen. Gerade die Grundschüler sollen wieder analog lesen und viele Viertklässler haben nun das erste Mal in ihrer Schullaufbahn ein echtes Buch in der Hand.

Keine Beweise für positive Effekte der Digitalisierung

Dabei kam der Pisa-Schock nicht überraschend: In einem Gutachten des renommierten Stockholmer Karolinska-Instituts hatten Professoren verschiedener Fachrichtungen von Neurowissenschaftlern bis Entwicklungspsychologen nach umfangreichen Meta-Studien der Digitalisierung von Klassenzimmern bereits im Sommer ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Sie sahen keine Beweise dafür, dass die Digitalisierung der Schulen überwiegend positive Effekte hat.

Im Gegenteil zeige die Forschung, dass diese – zumindest in dem Ausmaß, wie sie in Skandinavien umgesetzt wird – auch negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler habe. „Je nachdem, wie intensiv Schulen Computer einsetzen, hat das Auswirkungen auf das Mathematik- und Lesevermögen“, sagte Torkel Klingberg, Professor für kognitive Neurowissenschaften und Mit-Autor der Studie. Und weiter: Je mehr eine Schule ihren Unterricht auf Internet und Computer stützt, desto schlechter die Leistung der Kinder.

Haupterkenntnis der Forscher ist, dass die digitalen Werkzeuge die Konzentration und das Arbeitsgedächtnis beeinträchtigen. Selbst wenn ein Schüler sich nicht vom eigenen Bildschirm ablenken lässt, bestehe ein hohes Risiko, von den Bildschirmen der anderen abgelenkt zu werden. Gerade für schwächere Schüler lägen hier höhere Risiken – und damit negative Effekte beim Thema Bildungsgerechtigkeit.

Wissenschaftler fordern Tablets erst ab der 6. Klasse

Die Debatte darüber, in welchem Maß und ab wann Digitalisierung sinnvoll eingesetzt werden kann, ist auch in Deutschland angekommen. Zumal die Kultusministerkonferenz (KMK) die Arbeit mit Bildschirmmedien schon in der Kita und Informatikinhalte bereits im Grundschulunterricht empfiehlt. Obwohl das Ausmaß hierzulande nicht mit Skandinavien vergleichbar ist, melden sich zunehmend kritische Stimmen: Im Dezember haben 40 führende deutsche Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen zusammen mit Kinder- und Jugendärzten von den Kultusministern der 16 Länder ein Moratorium der Digitalisierung an Schulen und vorschulischen Bildungseinrichtungen gefordert.

Sie empfehlen, zumindest in der Primarstufe auf Tablets zu verzichten. Die wissenschaftliche Erkenntnis sei inzwischen, „dass Unterricht mit Tablets und Laptops bis zur 6. Klasse die Kinder nicht schlauer, sondern dümmer macht“, sagte der Medienpädagoge Professor Ralf Lankau, einer der Unterzeichner.

Tablets an Schulen führen nicht zwangsläufig zum Erfolg

Davor hatte bereits ein Gutachten für Aufsehen gesorgt, das der Philologenverband NRW in Auftrag gegeben hatte, und das die Digitalstrategie der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK) analysieren sollte. Durchgeführt wurde es von Karl-Heinz Dammer, Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Das Gutachten stellte der KMK-Digitalstrategie kein gutes Zeugnis aus. Demnach führt der verstärke Einsatz digitaler Medien im Unterricht so wie er jetzt praktiziert werde, nicht zu besseren Lernergebnissen. Sein Fazit: Die Schulen müssen sich unstrittig der Digitalisierung stellen. Aber es brauche eine kritische Debatte über Ausmaß, Art und Weise und Zielrichtung.

Je jünger die Kinder, desto wichtiger ist es, mit allen Sinnen zu lernen."
Katharina Schubert, Leiterin der Montessori-Grundschule Gilbachstraße

Dass das Analoge und das Erfahren mit allen Sinnen gerade beim Lesen- und Schreiblernen zentral ist, davon ist Katharina Schubert, Leiterin der Montessori-Grundschule Gilbachstraße in Köln, überzeugt. „Je jünger die Kinder sind, desto wichtiger ist es, mit allen Sinnen zu lernen.“ Selbst der Finger, mit dem die Kinder in einem gedruckten Buch an der Zeile entlangfahren, sei beim Lesenlernen eine wichtige Unterstützung. „Die digitalen Medien fokussieren da ausschließlich das Visuelle.“ Dadurch könne auch die kognitive Entwicklung stocken.

In manchen Haushalten gibt es keine Bücher mehr

Das Lesen- und Schreiblernen in den ersten beiden Schuljahren läuft daher an der Montessori Grundschule weiter analog, ohne wischen und tippen: Das fängt damit an, dass die Kinder mit den Fingern Buchstaben in den Sand malen. Beim Lesen nehmen die Kinder die Bücher in die Hand, laut Schubert mit großer Freude und manchmal zum ersten Mal.

Denn bei manchen Eltern stünden zu Hause keinerlei Bücher mehr im Regal. „Deshalb haben wir uns als Schule auch bewusst dagegen entschieden, Klassensätze an Tablets anzuschaffen.“ Anders als an anderen Grundschulen existieren hier nur vier Tablets pro Klasse. Ab der dritten Klasse nutzen die Kinder diese ganz gezielt – etwa zum Erstellen von Referaten, eng begleitet durch die Lehrkräfte, die vermitteln, wie man gute Quellen findet.

Das NRW-Schulministerium sieht das etwas anders und verweist darauf, dass laut NRW-Schulgesetz der souveräne Umgang mit digitalen Medien zu den grundlegenden Kompetenzen gehört – und zwar von Anfang bis zum Ende der Schulzeit. „Dazu gehört auch in der Primarstufe der lernförderliche Einsatz digitaler Endgeräte“, so das Ministerium. Tablets mit geeigneten digitalen Lernangeboten seien „ein wesentlicher Bestandteil einer zeitgemäßen Schul- und Unterrichtsentwicklung auch an den Grundschulen“, heißt es weiter. Zentral sei, digitales und analoges Lernen so zu verbinden, dass die Qualität des Lernens gesteigert wird – aber nicht als Eins-zu-Eins-Übersetzung des analogen Unterrichts ins Digitale.

Wir digitalisieren das ganze Bildungssystem mit Milliarden digitaler Geräte durch, ohne die empirische Evidenz zu beachten, was wirklich sinnvoll ist.
Klaus Zierer, Bildungsforscher und Mit-Autor der renommierten „Hattie-Studie“

Genau hier liegt für den Bildungsforscher und deutschen Mit-Autor der renommierten „Hattie-Studie“, Klaus Zierer, das Problem. Seiner Meinung nach ist das Thema Digitalisierung in der Bildung noch viel zu sehr auf die Technik fokussiert, obwohl am Ende die Pädagogik entscheidend für die Wirksamkeit dieser Technik sei. „Wir digitalisieren das ganze Bildungssystem mit Milliarden digitaler Geräte durch, ohne die empirische Evidenz zu beachten, was wirklich sinnvoll ist und ab welchem Alter“, sagte Zierer dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Schulunterricht: Lesen digitaler Texte ist nicht so gründlich

Seiner Meinung nach geschehe der Einsatz von digitalen Angeboten häufig unreflektiert. Zum Beispiel dann, wenn gedruckte Bücher einfach durch digitale Schulbücher ersetzt werden. „Dabei wissen wir aus Forschungen, dass das Lesen von digitalen Texten dem Lesen von gedruckten Texten weit unterlegen ist.“ Das liege vor allem daran, dass wir beim digitalen Lesen alles sehr viel schneller weiter wischten als wir beim analogen Lesen umblätterten. Lehrer müssten Schülern deshalb zunächst Strategien beibringen, auch am Tablet gründlicher zu lesen. „Sonst habe ich automatisch negative Effekte beim Leseverstehen.“

In anderen Bereichen sei die Digitalisierung dagegen eine Chance: Etwa, wenn es darum gehe, dem einzelnen Schüler individuelles Feedback zu geben und so die Lehrer-Schüler-Beziehung zu stärken. Sie könnte helfen, Stärken und Schwächen einzelner Schüler zu diagnostizieren und Aufgaben zu erstellen, die weder zu leicht noch zu schwer sind. „So steigt die Lernmotivation. Dann machen digitale Medien Sinn.“