Der ehemalige FC-Geschäftsführer spricht im Interview außerdem über die Bundesliga, die neue Führung der Nationalmannschaft und die EM.
Alexander Wehrle über FC-Vorwürfe„Wenn es so gemeint wäre, wäre es für mich schwer nachvollziehbar“
Herr Wehrle, in der vergangenen Saison hat der VfB Stuttgart mit 33 Punkten soeben noch die Relegation erreicht. Jetzt ist der VfB nach elf Spieltagen mit 24 Punkten Dritter. Wie war das möglich?
Alexander Wehrle: Das ist das Ergebnis harter, zielgerichteter Arbeit der Mannschaft und unseres Trainers Sebastian Hoeneß. Dennoch ist es erstmal eine schöne Momentaufnahme. Unser Ziel bleibt es, schnell 40 Punkte zu erreichen und endlich mal wieder eine ruhige Saison zu spielen. Wir wissen, wo wir herkommen. Wir hatten im Sommer einen Umbruch mit 27 Transferaktivitäten, 17 Spieler haben uns verlassen oder wurden verliehen, zehn Spieler sind neu dazugekommen. Wir haben jetzt eine gute Mischung in der Mannschaft – trotz einiger schmerzvoller Abgänge. Es ist noch mehr Teamgeist entstanden. Wir hatten bereits in der vergangenen Saison tolle Fußballer, dies haben wir so ergänzt, dass der Kader breiter aufgestellt ist. Unser Sportdirektor Fabian Wohlgemuth hat einen richtig guten Job gemacht.
Stürmer Serhou Guirassy ist in aller Munde. Wie erklären Sie sich seine Leistungsexplosion?
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Serhou war schon im Abstiegskampf der letzten Saison ein wichtiger Faktor, leider war er zwischenzeitlich lange verletzt ausgefallen. Er ist als Persönlichkeit gereift, hat sehr viel Selbstbewusstsein und alle Qualitäten, die ein Topstürmer braucht. Serhou ist eine wichtige Bezugsperson für die jungen Spieler. Es ist ein gutes Miteinander.
Warum kam der junge Guirassy einst beim FC gar nicht zurecht?
Sie sagen es: Das ist einige Jahre her. Er kam 2016 als 20-Jähriger zum FC. Und zwar zur Saison, in der Anthony Modeste den FC dann mit 25 Toren in den Europapokal schoss. Die beiden hatten aber ein sehr gutes Verhältnis zueinander, Tony war fast väterlich für Serhou. In seiner zweiten Saison, der Abstiegssaison, war Serhou leider viel verletzt. In der 2. Liga war es schwierig für ihn, sich gegen Cordoba und Terodde durchzusetzen. Seine Anlagen und sein großes Talent waren aber schon damals offensichtlich.
Dennoch hat der FC ihn Anfang 2019 für rund sechs Millionen Euro an den SC Amiens verkauft.
Serhou kam damals nicht auf die Einsatzzeiten, die er sich gewünscht und die wir ihm zugetraut hatten. Wenn man alle Umstände betrachtet, habe ich die Entscheidung der sportlichen Leitung nachvollziehen können und ihr zugestimmt.
Gibt es irgendeine Chance für Ihren Klub, Guirassy zu halten?
Serhou hat sich im vergangenen Sommer auch in vollem Bewusstsein für den VfB entschieden. Wir sind da in einem sehr engen Austausch. Er fühlt sich im Verein und mit seiner Familie in Stuttgart extrem wohl. Er hat hier eine herausragende Stellung. Natürlich haben wir eine Chance.
Ein weiterer Ex-Kölner, Chris Führich, hat für die deutsche Nationalmannschaft debütiert, Waldemar Anton und Deniz Undav könnte dies noch bevorstehen. Auch das war nicht abzusehen, oder?
Alexander Nübel möchte ich auch erwähnen, er spielt sehr konstant. Wenn eine Mannschaft harmoniert und so mutigen, offensiven Fußball spielt, dann wird der Einzelne ganz anders wahrgenommen, als wenn man im Abstiegskampf steckt. Führich, Anton, Undav, Nübel: Das sind alles potenzielle Kandidaten für die Nationalmannschaft. Zu entscheiden hat das aber Julian Nagelsmann.
Mit Nagelsmann, Rudi Völler, Andreas Rettig und Hannes Wolf hat sich der DFB im sportlichen Bereich komplett neu aufgestellt. Wie nehmen Sie als DFB-Aufsichtsratsvorsitzender die Veränderungen wahr?
Wir haben einige Entscheidungen getroffen, die sich schon bezahlt gemacht haben. Das Zusammenspiel funktioniert sehr gut. Wir haben einen guten Mix aus erfahrenen und jungen Leuten. Die EM 2024 im eigenen Land birgt eine riesige Chance. Die Aufstellung für diese große Herausforderung war notwendig. Gleichzeitig befindet sich der DFB aber weiter in einer schwierigen finanziellen Lage, Strukturen wurden zu Recht hinterfragt. Es hat einen Neustart gebraucht, in dem wir mittendrin sind. Ich bin überzeugt, dass wir in den kommenden Jahren davon positiv profitieren werden.
Der DFB stand aber in den vergangenen Jahren vielmehr für Misserfolg und Chaos auf nahezu allen Ebenen. Sind die Zeiten vorbei?
Ich bin da zuversichtlich. Bernd Neuendorf (DFB-Präsident, d. Red.) hatte bei seiner Amtsübernahme ganz sicher eine schwierige Ausgangsposition. Das gilt auch für den DFB-Aufsichtsrat und die Gesellschafterversammlung. Wir haben einige und gute Personalentscheidungen getroffen, beim Frauen-Nationalteam stehen sie aber noch an. Wir haben das strukturelle Defizit deutlich reduzieren können. Wir haben die Strukturen nach dem Abgang von Oliver Bierhoff (Geschäftsführer der Nationalmannschaften, d. Red.) verändert und uns personell breiter aufgestellt. Das waren die benötigten Weichenstellungen.
Es gibt allerdings auch deutliche Kritik an Neuendorf: zum Beispiel an seiner Rolle bei der WM in Katar oder an seinem Schweigen zur WM 2034 in Saudi-Arabien.
Bernd Neuendorf und die DFB-Gremien haben eine klare Haltung. Ich meine: Er hat deutlich positioniert und lässt sich nicht verbiegen.
Was sind Ihre Erwartungen an die Heim-EM?
Ich wünsche mir eine EM, in der wir als Gastgeber eine Willkommenskultur an den Tag legen und den europäischen Gästen unser Land von der positivsten Seite zeigen. Ich wünsche mir in diesen schwierigen Zeiten eine friedvolle, emotionale Stimmung mit spannenden Fußballfesten. Am Ende wünsche ich mir Deutschland als Europameister.
Hat Deutschland wirklich eine Chance auf den EM-Titel?
Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass wir Europameister werden können.
Ihr Ex-Klub, der 1. FC Köln, hatte sich zuletzt erneut in einem Vorstandsbrief an seine 133 000 Mitglieder gerichtet. Darin heißt es unter anderem, dass der Verein nach Ihrem Weggang 2022, „nach Corona und wegen finanzieller Altlasten finanziell vor dem Kollaps“ gestanden habe. Geschäftsführer Christian Keller sprach im „Doppelpass“ erneut vom „Sanierungsfall FC“. Das ging nach neunjähriger Tätigkeit als Geschäftsführer auch klar gegen Sie und die alte Vereinsführung. Was sagen Sie zu den Vorwürfen?
Wenn es so gemeint wäre, wäre es für mich schwer nachvollziehbar. Ich habe im Frühjahr 2022 einen kommenden Europapokalteilnehmer hinterlassen und mit meinen Sport-Geschäftsführer-Kollegen Jörg Schmadtke, Armin Veh und Horst Heldt sowie den Vorständen neun Jahre lang immer im Sinne des 1. FC Köln entschieden. Als der damalige Vorstand um Werner Spinner 2012 anfing und ich im Januar 2013 zum FC kam, war die finanzielle Situation auch schwierig. Nach und nach haben wir es geschafft, aus eigenen Mitteln 38,5 Millionen Euro Eigenkapital aufzubauen – und zwar ohne Sondereffekte. Den Begriff Sanierungsfall kann ich sogar nachvollziehen, wenn man ihn nicht nur auf den FC bezieht. Kein Bundesligaklub konnte so etwas wie die Corona-Pandemie vorausplanen. Wir reden hier über bis zu 100 Millionen Euro Umsatzverlust. Wir mussten Maßnahmen einleiten, um die Existenz des Klubs zu sichern. Man muss es so klar sagen: Ohne die 38,5 Millionen Euro Eigenkapital würde der 1. FC Köln heute nicht mehr in der Form existieren.
Der FC-Vorstand ist seit 2019 im Amt. Welche Rolle spielt er?
Durch Corona hatten wir von heute auf morgen und dann anderthalb Jahre praktisch keine Zuschauer-Einnahmen mehr. Wir waren gezwungen, Eigenkapital und Liquidität zu stärken. Wir haben Genussrechte eingesammelt und künftige Sponsoring-Einnahmen vorgezogen. Diese zwingend notwendigen Maßnahmen waren mit dem aktuellen Vorstand und dem Gemeinsamen Ausschuss selbstverständlich im Detail abgestimmt. Sie sind ohnehin zustimmungspflichtig — genauso wie große Transfers oder Trainerverpflichtungen.
Wie fassen Sie persönlich diese Vorwürfe auf?
Wissen Sie, ich habe es immer so gehalten, dass ich die Zukunft und die Entwicklung im Blick habe. Ich gehe davon aus, dass alle Verantwortungsträger nach bestem Wissen und Gewissen die bestmöglichen Entscheidungen treffen. Deshalb ist mir Nachtreten fremd. Ich halte nichts davon, nach Schuldigen zu suchen, sondern bin ein Freund davon, die Ärmel aufzukrempeln und im Team gute Arbeit abzuliefern.
Die FC-Verantwortlichen wiederholen mantraartig: Weil sie kein Geld haben, können Sie keine größeren Transfers tätigen. Dies habe auch mit „Altlasten“ aus Ihrer Amtszeit zu tun, also auch mit Spielern, die in puncto Ablöse und Gehalt offenbar viel zu teuer waren. Was entgegnen Sie?
Ich möchte Spieler, also Menschen, grundsätzlich nicht als Altlast bezeichnen. Was die Kaderplanung betrifft, möchte ich daran erinnern, dass wir schon im Sommer 2021 wegen Corona finanziell kreativ sein mussten. Wir haben Marvin Schwäbe, Dejan Ljubicic, Mark Uth und Timo Hübers ablösefrei verpflichtet, im Winter wurde Jeff Chabot ausgeliehen. Diese Spieler wurden unter Steffen Baumgart allesamt Stammspieler und haben ihren Marktwert deutlich erhöht. Auch dank dieser Spieler konnte sich der FC in der Saison für die Conference League qualifizieren. Dies führte zu deutlichen Mehreinnahmen in Millionenhöhe und zum Gewinn im letzten Geschäftsjahr, den der FC neulich präsentiert hat. Dass wir in den Saisons davor bei einigen Transfers mit unserem Eigenkapital im Rücken etwas mehr ins Risiko gegangen sind, stimmt. Nämlich für Ellyes Skhiri, Sebastiaan Bornauw und im Winter davor für Anthony Modeste, den wir ablösefrei zurückgeholt haben, nachdem er 16 Monate zuvor für die Rekordablöse von 28 Millionen Euro nach China gewechselt war. Ich glaube, bei allen dreien war das richtig — sportlich und finanziell.
Zu Ihrer Zeit in Köln soll es Investoren gegeben haben, die sich beim FC engagieren wollten. Doch Investoren lehnt der Klub bis heute rigoros ab. Beim VfB haben Sie einen 100-Millionen-Deal mit Porsche abgeschlossen. Machen Sie nun in Stuttgart das, was Sie beim FC nicht durften?
Da muss jeder Verein seinen eigenen Weg finden. Die Mitglieder sind der oberste Souverän. Das habe ich als Geschäftsführer immer respektiert – unabhängig davon, ob es Möglichkeiten der Anteilsverkäufe gab. Der VfB hat mit seinen Mitgliedern beschlossen, dass 25 Prozent der AG veräußert werden können. Mercedes und Jako waren schon an Bord. Uns ist es zuletzt gelungen, dass mit Porsche eine weitere Weltmarke aus der Region dazu gekommen ist.
Können Profivereine ohne Investoren zukünftig noch mithalten?
Es gibt Ansätze, Modelle, in denen es ohne Investoren klappen kann. Freiburg oder Union haben das bewiesen. Doch die Schere geht immer weiter auseinander — was im Sinne des Fußballs gewiss nicht positiv ist. Beim VfB sind wir klare Befürworter der 50-plus-1-Regel, aber im internationalen Kontext wird es immer schwieriger, ohne strategische Partner oder Investoren wettbewerbsfähig zu bleiben.
Der VfB hat gerade 18 Punkte mehr als der FC. Wohin führt der Weg Ihres Ex-Vereins?
Ich bin fest davon überzeugt, dass Steffen Baumgart, den Horst Heldt und ich ja nicht von ungefähr nach Köln geholt haben, mit dem FC wieder die Kurve bekommt. Er ist ein sehr guter Trainer und passt zum Team. Ich drücke dem FC beide Daumen, dass er am Ende über den Strich kommt.
Seit Ihrem Weggang haben etliche Mitarbeiter am Geißbockheim den Verein verlassen. Überrascht Sie das?
Als mittlerweile Außenstehender ist das schwierig für mich zu beurteilen, aber ja: Ich bin überrascht, dass einige Mitarbeiter, die 15 oder sogar 20 Jahren im Verein waren, plötzlich nicht mehr da sind. Mitarbeiter, auf die man sich immer verlassen konnte und die mit ungemein viel Herzblut dabei waren und bei denen ich vermutet hätte, dass sie wohl ewig am Geißbockheim bleiben würden.
Können Sie sich vorstellen, irgendwann zum FC zurückzukehren?
Ich habe in vollem Bewusstsein bis 2026 beim VfB unterschrieben (lacht). Wir haben hier einiges vor und wollen viel entwickeln. Nach Köln komme ich immer wahnsinnig gerne zurück. Die Stadt ist mehr als meine zweite Heimat, ich habe in Köln viele Freunde, die mir ans Herz gewachsen sind. Ich habe meine Wohnung in der Stadt behalten, feiere Karneval mit der Bürgergarde „blau-gold“. Ich bin daher regelmäßig und sehr gerne in Köln, aber meine Aufgabe ist in Stuttgart.