Dreizwo, Weltmeister – Helmut Rahns Siegtreffer im WM-Finale 1954 gilt als Ur-Moment der jungen BRD. Der Fußballer aus Essen wollte aber kein Held sein.
Wir erzählen zum 70. Jubiläum der Bundesrepublik seine Geschichte – und damit auch die eines Landes voller neuer Hoffnung.
Auf dem Weg zum Wankdorfstadion hatte der Boss einen Tipp für seinen Kapitän. „Wenn du die Seitenwahl gewinnst, lass uns mit der Sonne im Rücken spielen“, sagte Helmut Rahn zu Fritz Walter. Draußen schüttete es seit Stunden, Fritz-Walter-Wetter, von Sonne keine Spur. Rahn liebte solchen Quatsch, und der Quatsch war extrem wertvoll.
Der Rechtsaußen – wegen seiner Führungsqualitäten der Boss – war für Bundestrainer Sepp Herberger, den „Chef“, entscheidend für die Stimmung in der Mannschaft. Fritz Walter, das Ballgenie, der Grübler mit Hang zur Melancholie – er war angewiesen auf einen wie Rahn, der aus dem Nichts eine Posse reißen, ein Lied anstimmen und jederzeit Tore schießen konnte.
Ein Tor als Gründungsmoment der Republik
Am 4. Juli 1954 erzielte Rahn im Finale von Bern gleich zwei Treffer. Der eine, das 2:2 in der 18. Minute mit rechts, ist über die Jahrzehnte hinweg ein wenig verblasst hinter Rahns 3:2-Siegtreffer sechs Minuten vor Schluss, als Schäfer in den Strafraum der Ungarn flankte, die Kopfballabwehr vor Rahns Füße fiel und der aus dem Hintergrund schoss.
Das Tor gilt vielen als eigentlicher Gründungsmoment der Bundesrepublik, mindestens aber als emotionales Fundament des Wirtschaftswunders. Es war tatsächlich ein Wunder, denn Ungarn war damals unschlagbar und hatte ja im Finale nach acht Minuten 2:0 geführt. Doch auch das war Rahn: einfach weitermachen. Ein Optimist in allen Lebenslagen, dem ein paar Zweifel womöglich hier und da eine Menge Ärger erspart hätten.
Die Größe wird erst spät deutlich
Rahn, geboren 1929 in Essen, war ein Urviech. Als Neunjähriger beim SV Altenessen war er zwar rasch bekannt, weil er diesen überragenden Fuß hatte; doch seine Körpergröße beeindruckte niemanden. „Köttel“ nannten sie ihn im Essener Norden, wo er als einer von vier Söhnen einer Bergmannsfamilie aufwuchs. Der Spitzname blieb. Am 4. Juli 1954 besorgte sich Rahn noch im Stadion eine Telefonleitung – und wählte die Nummer seiner Stammkneipe. „Mensch, der Köttel hat gerade angerufen!“, rief der Wirt in den Schankraum.
Die Größe seiner Tat wurde Rahn erst später bewusst. Natürlich war den Spielern klar: Weltmeister, Finalsieg gegen Ungarn. Doch was dieses Spiel mit der jungen Bundesrepublik machen würde, das konnten sie nicht vorhersehen, niemand konnte das. Wochen nach dem Finale hörte Rahn erstmals die legendäre Radioreportage.
Herbert Zimmermanns sich überschlagende, dann vor Rührung brechende Stimme. Er habe im Sessel gesessen und Tränen seien ihm die Wangen heruntergelaufen, gestand Rahn später. Ihm sei bewusst geworden, was geschehen war. Er war der erste Held einer Nation, die eigentlich die Schnauze voll hatte von deutschem Heldentum.
Fußballlieder auf dem Akkordeon
Rahn hat oft von seinem Tor erzählen müssen. Die meisten Menschen hatten es ja nur am Radio gehört. „Helmut, erzähl mich mal dat Tor.“ Und er erzählte: Die Flanke, der Abpraller. Die Ungarn, die ihm in der 84. Minute viel zu viel Platz geben. Der Flachschuss mit links ins Eck, unhaltbar. Dreizwo – Weltmeister. Immer dieselbe Episode an der Theke. In der Friesenstube, Rahns Stammkneipe in Essen-Fronhausen, war er zu Hause. Wenn er in Stimmung war, ließ er sich sein Akkordeon kommen, er wohnte ja um die Ecke. Dann spielte er Fußballlieder , wie auf den Busfahrten während der 54er WM. Dann war er glücklich.
Über Rahns Bierkonsum ist viel geredet worden, es war ein Rätsel. Sein 3:2 hatte ihm für den Rest des Lebens Freibier beschert, ständig stellte ihm jemand ein Pils vor die Nase, oft mit einem Korn dazu. Der Alkohol brachte Schwierigkeiten. Ständig hatte Rahn Gewichtsprobleme, aber eben auch ein erstaunliches Talent zur Regeneration: Am Abend vor einem Spiel konnte er einen halben Kasten Bier trinken – und war tags darauf doch der beste Mann auf dem Platz.
Vor der WM 1958 war Rahns Übergewicht großes Thema. Vier Jahre habe er gefeiert seit Bern, schrieben die Zeitungen. Dennoch stand er im Kader – und schoss sechs Turniertreffer, so viele wie Pelé. Er war ein Ausnahmespieler, für den Bundestrainer Sepp Herberger Ausnahmen machte. Doch der Alkohol brachte auch Probleme. 1957 fuhr er mit 2,6 Promille in eine Baugrube und lieferte sich ein Handgemenge mit der Polizei, die ihn in Handschellen abführte. Da hörte der Spaß auf.
Keiner für die ganz große Karriere
In den Fünfzigern prägte er die Mannschaft von Rot-Weiss Essen, nach acht Jahren bei RWE ging er zum 1. FC Köln, wo er in 29 Spielen zwar elf Tore erzielte, sich aber zahlreiche Disziplinarstrafen einhandelte. Aus Köln wagte er den Schritt ins Ausland. Nachdem er zuvor märchenhafte Angebote aus Spanien und Italien abgelehnt hatte, ging er nach Holland zum SC Enschede – für 10 000 Mark Handgeld. Die 100 Kilometer Entfernung von zu Hause waren gerade noch zu tolerieren. Die ganz große Karriere, Rahn hat sie nicht gewollt.
Geld verdiente er zwar für damalige Zeiten in großem Stil, und Freunde berichteten, er habe sich durchaus „mal eine Zigarette mit einem Zwanziger angezündet“. Doch märchenhaft war das alles nicht: Eine Mietwohnung, ein Gebrauchtwagenhandel, ein Schrebergarten. Rahn gehörte einer Generation an, die bald abgelöst wurde. Schon 1966 tauchten die großen Individualisten auf; die Overaths, Netzers und Beckenbauers. Männer mit ganz anderen Vorstellungen von ihrer Karriere.
Helmut Rahn hatte unbezahlbare Momente erlebt. War Weltmeister geworden und zum Papst gereist. Doch im Alter verstummte er. Eine Einladung des DFB zur WM 1994 in die USA schlug er ebenso aus wie die Mitarbeit an Sönke Wortmanns Film über die Helden von Bern, der vor allem ihm gewidmet ist, dem Boss. Er hatte genug davon, ein Held zu sein. „Mit dem dritten Tor fing die ganze Scheiße an“, soll er einmal gesagt haben.
Als Rahn im August 2003 starb, kam Bundespräsident Johannes Rau zur Beerdigung auf dem Essener Margarethenfriedhof. Es war wie ein Staatsbegräbnis für einen Bergmannssohn, der zu einem deutschen Mythos geworden war.