Die Zahl der Bedürftigen steigt rasant, die Abgaben der Discounter gehen zurück. Doch Aufgeben ist für die Ehrenamtler keine Option.
InflationWie es die Tafeln im Kreis Euskirchen schaffen, immer mehr Menschen zu versorgen
Dienstag, 13 Uhr: Es ist das gewohnte Bild für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Euskirchener Tafel. Vor der Ausgabe in der Gottlieb-Daimler-Straße stehen geschätzt 100 bis 120 Menschen. „Viele sind bereits versorgt und schon wieder weg“, sagt Walter Feckinghaus. Der Vorsitzende der Euskirchener Tafel läuft umher und koordiniert, ohne Stress zu verbreiten. Es gibt viel zu tun.
Der 71-Jährige und seine Mitstreiter wuseln zwischen den Kisten mit Obst und Gemüse, den Kühlschränken, den Milchpaketen und der Brotablage umher, um die Taschen zu füllen, die die Kundinnen und Kunden zuvor abgegeben haben.
So geht es zu an den Ausgabetagen der Tafeln im Kreis Euskirchen. Doch die Helfer spüren es: Ihre ehrenamtliche Arbeit ist schwieriger geworden. Immer mehr Kunden auf der einen Seite, immer weniger Lebensmittel von den Discountern auf der anderen — die Hilfseinrichtungen stehen vor großen Herausforderungen. Und sie tun alles, um sie zu meistern.
Bei der Tafel in Mechernich hat sich die Zahl der Kunden verdreifacht
Seit Beginn des Jahres 2022, so erzählt der Mechernicher Tafel-Chef Wolfgang Weilerswist, habe sich die Zahl der Kunden in Mechernich verdreifacht: „Wir haben jetzt gut 500 Karten.“ Die werden von den Kunden bei der Ausgabe abgegeben, damit die Tafel-Mitarbeiter die Taschen mit Lebensmitteln füllen können.
Auf den Karten können sie dann lesen, ob sie Ware für eine einzelne Person zusammenpacken sollen oder für einen Haushalt mit mehreren Personen. Alle sollen möglichst gleichmäßig behandelt werden. In Mechernich sind es Weilerswist zufolge inzwischen 1300 bis 1500 Menschen, die versorgt werden.
Er stelle fest, dass viele ältere Menschen als Neukunden dazu gekommen seien, aber auch Jüngere, die mit ihrer Arbeit Lohn nicht mehr über die Runden kämen: „Wenn einer aus der Eifel zur Arbeit nach Köln fahren muss bei diesen Spritpreisen, reicht der Mindestlohn oft nicht mehr, um die Familie alleine zu finanzieren.“ Und Geld für Lebensmittel brauche man halt immer sofort – und nicht erst, wenn die Steuerrückzahlung für die Arbeitspendelei überwiesen werde.
In Euskirchen hat sich die Zahl der Kunden Walter Feckinghaus zufolge innerhalb der vergangenen eineinhalb Jahre verdoppelt. Die Zahl der Haushalte, die ihren Bedarf mit Berechtigung des Sozialamtes oder der Arbeitsagentur über die Tafel decken, liege in der Kreisstadt inzwischen bei 480, also bei rund 1400 Menschen.
In Euskirchen kommen immer mehr Rentnerinnen zur Tafel
Auch Feckinghaus nimmt wahr, dass viele Rentner, vor allem aber Rentnerinnen, neu zur Tafel kommen. „Wenn die Preise der Lebensmittel steigen wie in den letzten Monaten, spüren das viele Menschen, die bis dahin noch irgendwie zurechtkamen“, beschreibt Feckinghaus die Situation.
Dabei scheuten sich gerade ältere Menschen, Hilfe anzunehmen, weiß Kirsten Althoff, Beisitzerin im Tafel-Vorstand in Kall, zu berichten: „Wir wissen von einigen Seniorinnen und Senioren, die eigentlich unsere Hilfe bräuchten, sich aber schämen, sie anzunehmen.“
Andere Seniorinnen und Senioren, fügt Wolfgang Weilerswist hinzu, vermieden den Gang zu den Ausgabestellen, weil ihnen der Andrang bei den Ausgaben zu viel geworden sei. Dabei werde die Reihenfolge gelost, um Gedränge zu vermeiden.
Bei der Kaller Tafel kaufen die Kunden für einen kleinen Obolus ein
Die Kaller Tafel betreut die südlichen Kommunen im Kreis. „An den Ausgabetagen kommen etwa 65 Kundinnen und Kunden, die dann für etwa 160 Leute einkaufen“, sagt Kirsten Althoff.
Wobei sie mit „einkaufen“ den Obolus meint, den die Kunden an die Tafeln entrichten. In Kall liege er bei drei Euro pro Person, wobei der Gesamtbetrag ab dem vierten Mitglied des Haushalts die sechs Euro nicht übersteige.
Wenn die Tafel-Mitarbeiter morgens bei den Discountern die nicht verkauften, aber noch essbaren Lebensmittel abholen, steht da nicht mehr so viel Ware wie früher. „Im gleichen Zeitraum, in der sich die Zahl der Kunden verdoppelt hat, hat sich die Ware, die wir bei den Discountern holen können, halbiert“, erklärt der Euskirchener Tafel-Vorsitzende Walter Feckinghaus.
Die Läden seien mehr und mehr dazu übergangen, nicht lange haltbare Ware in den Stunden vor Geschäftsschluss mit Preisnachlass zu verkaufen. „Das ist ja im Grunde auch richtig, aber es bleibt dann auch weniger für die Tafel übrig“, stellt Feckinghaus fest.
Für Lebensmittel wird nach Essen, Aachen, Köln oder Straelen gefahren
Wolfgang Weilerswist nimmt das den Unternehmen auch nicht übel: „Ihre Aufgabe ist es, wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Sie kalkulieren dann schärfer.“ Das seien auch gar nicht die Händler vor Ort, das werde oftmals von Zentralen so gesteuert, so der Mechernicher.
Um dennoch den Kunden ausreichend helfen zu können, bedarf es inzwischen einer ausgefeilten Logistik. „Wir haben mehrere Verteilzentren in NRW“, erklärt Weilerswist. Dort gäben auch Hersteller Ware ab, die sie nicht mehr verkaufen können.
„Unsere Fahrer sind fünf Tage in der Woche unterwegs“, beschreibt der Euskirchener Walter Feckinghaus das Vorgehen. Sie führen auch schonmal die Lebensmittelhersteller direkt an, wenn die die ein oder andere Palette übrig haben — etwa, weil die Verpackung fehlerhaft beschrieben ist oder das Produkt nicht mehr dem Angebot im aktuellen Prospekt entspricht. „Letzte Woche hat uns ein Metzger aus Köln angerufen, der noch Ware hatte, die nicht abgeholt worden ist“, zeigt Feckinghaus auf einen Berg Fleisch im Tiefkühlschrank des Tafel-Gebäudes.
Ob sie mal kurzfristig nach Essen führen, um Wurst abzuholen, nach Straelen, weil dort ein großer Tiefkühlkost-Händler seinen Sitz hat, oder nach Aachen, weil es in der Kaiserstadt Schokolade zu holen gibt — die Tafel-Fahrer seien viel unterwegs, so Weilerswist.
Tafeln im Kreis dürfen jetzt mit Spendengeld Lebensmittel kaufen
Und wenn das alles nicht reicht, müssen neue Wege beschritten werden. „Wir kaufen auch schon mal mit Spendengeld Ware dazu“, erklärt Kirsten Althoff. Auch andere Tafeln tun das, obwohl es nicht dem Ursprungsgedanken der Einrichtung entspreche, wie Althoff erklärt. Der laute nämlich: „Lebensmittel retten – Menschen helfen“. Spenden sollten ursprünglich für die Betriebskosten genutzt werden. Doch Not kennt halt kein Gebot. So habe der Bundesverband die Regel gelockert.
Und noch etwas hat sich geändert: Bei vielen Tafeln dürfen die Kunden jeweils nur noch einmal in der Woche kommen — zum einem, um sicherzustellen, dass sie danach auch genügend im Beutel haben, zum an deren, um den Ablauf angesichts der gestiegenen Zahl an Empfängern meistern zu können. „Das ist besser für die Kunden“, sagt Kirsten Althoff, deren Kunden zum Teil lange Anfahrten aus Hellenthal, Schleiden, Dahlem oder Blankenheim zur Ausgabe in Kall haben.
Es hat sich viel geändert, seitdem Wolfgang Weilerswist vor 20 Jahren die Tafel in Mechernich gegründet hat. Er war auch viele Jahre Vorsitzender der NRW-Tafeln. „Ja, es ist nicht einfach“, sagt er zu der aktuellen Situation: „Aber wir kriegen das schon irgendwie hin.“
Was auch sonst? Resignieren etwa? Das ist keine Option für die Ehrenamtler. Nach dem Ausgabetag ist vor dem Ausgabetag. Und dann stehen wieder viele Menschen vor der Tür, die Lebensmittel für sich und ihre Liebsten brauchen.
Zur Mitarbeiter-Werbung steigt Mechernicher Tafel-Chef auf die Kanzel
Immerhin: Während die Zahl der Kunden rasant steigt, die Ware aber weniger wird, können sich die Tafeln auf ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen.
45 Helfer befüllen die Taschen der Kunden, holen die Ware und verwalten die Geschäfte bei der Tafel in Mechernich, wie ihr Vorsitzender Wolfgang Weilerswist erklärt. „Wir haben hier in Mechernich eine gute Community“, sagt er. Aus den Vereinen, aus der Verwaltung sowie aus den Kirchen stünden immer Menschen bereit, wenn „Not am Mann“ sei, sagt der Vorsitzende. Hin und wieder lassen ihn die Geistlichen auch auf die Kanzel, um für die Mitarbeit zu werben: „Danach kommen immer so drei oder vier neue Helfer“, sagt Weilerswist.
Auch Walter Feckinghaus kann sich nicht über mangelndes Engagement beklagen. Rund 60 Helfer packen in Euskirchen an — „doppelt so viele wie im Sommer 2022“, so Feckinghaus. Allerdings sei der Altersschnitt hoch: „48 sind über 70, acht davon über 80“, stellt Feckinghaus fest. Nur zwei Helfer seien unter 60 Jahre alt.