Das Jahr war kaum ein paar Tage alt und für Camilo Aguilar-Bravo schon zu Ende. Finanziell gesehen. „Noch bevor es richtig losgeht, ist unser Budget schon weg“, sagt der Leiter des Jugendladen Mülheim.
Nur 45 000 Euro hat der Verein Arbeitskreis für das ausländische Kind in zwölf Monaten zur Verfügung, um die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – und nicht nur ausländischen – hier zu finanzieren. Doch 1500 Euro kostet allein die monatliche Miete für die 130 Quadratmeter in einem Hinterhof nah der Bergisch Gladbacher Straße. Ohne Nebenkosten. Der Platz verteilt sich auf mehrere Ladenlokale.
Vorsichtig formuliert ist das nicht optimal. Genau so wenig wie der bauliche Zustand. Gerade erst wieder hat es einen Wasserschaden gegeben.
Teile der Decke kamen herab. Im Innenhof gleich neben der Tischtennisplatte baumeln offen auf der Fassade Telefonleitungen und andere Kabel-Stränge herab. Doch formal ist der Jugendladen halt nur ein Projekt. Und das seit 19 Jahren. Deshalb kommen nicht weniger Kinder, aber es gibt weniger öffentlichen Zuschuss.
Kaum kindgerecht ist auch die weitere Umgebung. „Auf der Keupstraße gibt es wenig Kindertaugliches“, da ist sich Sozialraumkoordinatorin Maria Fichte vom Verein Christliche Sozialhilfe (CSH) Köln mit Kollege Aguilar-Bravo einig. Ebenso wie in dem Punkt, dass hier in diese Gegend, nicht nur für diese Einrichtung, mehr Geld für Kinder- und Jugendarbeit investiert werden muss.
EU-Bürger kriegen keine Sprachkurse
Während Kinder eigentlich in der Schule sein sollten, sind auf Mülheims Straßen am Vormittag einige zu sehen, die sicher nicht auf dem Weg zum Unterricht sind. Andere sind noch nicht einmal gemeldet. Sechs- bis zwölfjährige Kinder von Zuwanderern aus Osteuropa. Maria Fichte hat einen Blick für sie.
An der Ecke Keupstraße/Holweider Straße liegt der so genannte „Arbeiterstrich“. Hier warten Bulgaren auf Arbeit für drei bis fünf Euro die Stunde. Sie sind keine Flüchtlinge, sondern genießen die Freizügigkeit von EU-Bürgern, nach der sich jeder in der Union aufhalten darf, wo er möchte. Fichte: „Sie kommen und kriegen keinen kostenlosen Sprachkurs oder sonstige Hilfe. Sie müssen ihren Weg selbst finden wie jeder Spanier oder Deutsche auch.“ Doch sie sind bitterarm. Und kommen in der Keupstraße an, weil sie in Bulgarien der türkischen Minderheit angehören oder zumindest Türkisch verstehen. „Hier finden sie ein Netzwerk, einen Zugang.“
Stadtteilmütter helfen bei Integration
Für sie, aber auch Menschen mit Flüchtlingsstatus oder herkömmlichem Migrationshintergrund ist das CSH-Projekt Stadtteilmütter eine wichtige Integrationshilfe. Die Muttersprachlerinnen, die hier hauptamtlich beschäftigt werden, sind nicht nur gut ausgebildet und wichtige Dolmetscher. Sie beraten auch bei der Suche nach Kindergartenplätzen oder bei Amtsgängen. Und zwar kostenlos.
Denn es gibt auch die, die vor Jobcentern und anderen Ämtern lauern und Menschen für ihre „Hilfe“ Geld abknöpfen – mitunter in der Absicht des Sozialbetrugs. Mit dem türkischen Kontaktbeamten der Polizei versucht die Stadtteilkonferenz, dem Problem Herr zu werden. Doch immer neue Täter kommen nach.
Auch Verwahrlosung wird durch die hohe Fluktuation begünstigt. „Es ist einfach immer dreckig“, sagt Fichte, während vor ihren Augen ein bulgarisches Kind in eine Hofeinfahrt uriniert. Immer sonntags kommen die Busse an – und neue Bulgaren nach. Von 2200, die hier leben, ist die Rede. Die genaue Zahl kennt keiner.
Menschen mieten Matratzen
Viele Häuser sind überbelegt, die Menschen schlafen teilweise in Schichten. „Sie zahlen 400 Euro im Monat für eine Matratze, die sie nach acht Stunden für den nächsten freimachen müssen.“ Bis zu sechs Menschen in einem Raum, darunter auch Kinder. „In einem Haus gab es keinen Strom und kein Wasser.“ Da organisierte der Don-Bosco-Club Duschgelegenheiten.
Weiter ins hippe Schanzenviertel
Mit dem Interkulturellen Dienst hat Fichte in einem Hinterhof zwei Räume angemietet. In dem Beratungsbüro Keupstraße 93 bietet der Dienst mit der Polizei Sprechstunden an, um die Menschen nicht zu verlieren. Der Verein Latscho Drom begleitet die Menschen und spricht für sie. Fichte: „Doch die Menschen müssen lernen, für sich selbst zu sprechen.“
Seit März kümmert sich deshalb Marius Henne als Streetworker des Vereins Lernende Region nur um diese Gruppe wohnungsloser Zuwanderer. Er geht in Treffpunkte wie das Café Varna, dem ersten bulgarischen Kiosk der Keupstraße.
Der Anblick und das Flair des hippen und boomenden Medienviertels Schanzenstraße täuscht über das Elend nebenan hinweg. Zwar gibt es immer mehr Berührungen und Annäherung vor allem durch das Engagement des Schauspiel Köln. Den meisten Gewerbetreibenden, die hier ihr Geld verdienen, sei der Stadtteil, in dem sie produzieren, jedoch fremd. „Die kennen nicht mal das Strukturförderprogramm Mülheim 2020.“
Vertane Chancen
In den Augen von Maria Fichte werden Chancen vertan. So bleibe das alte Güterbahnhofgelände auf dem Weg zur Von Sparr-Straße, das neu bebaut werden soll, vornehmlich der Wirtschaft mit noch mehr Büros, und weniger dem Wohnen von Menschen vorbehalten, kritisiert sie. Ein Politikum. Gesellschaftliche Gruppen wie die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) hatten die Vision, hier ein Viertel zu schaffen, „das klima- und sozialverträglich mehr Miteinander schafft“.
Doch dem sei keine Rechnung getragen worden. „Es wird hier keinen sozialen Wohnungsbau geben. Und kaum Natur.“ So soll es zwar einen Platz mit Bäumen namens Birlikte-Platz geben, um dem Nagelbomben-Attentat von 2004 zu gedenken, bei dem 22 Menschen teils schwer verletzt wurden. „Aber das ist es auch. Wir haben kein Grün – bis auf den Böckingpark.“ Und es fehlt noch mehr jenseits der Bahntrasse – obwohl sich auch hier immer mehr Startups ansiedeln.
Die Menschen in der Hacketäuersiedlung brauchen zwei Lebensmittelausgaben. Die Gleise trennen sie von dem Bildungsbürgertum, das nur zum Arbeiten herkommt. Brauchen sie ein Kinderbett, müssen viele zum Second-Hand-Möbellager in der Markgrafenstraße, das zum Bürgerhaus der „Mülheimer Selbsthilfe“ („Mütze“) mit seinem Bürgerpark an der Berliner Straße gehört. Selbstverwaltung und Selbsthilfe wie sie Mütze und SSM immer noch leben, ist hier seit den 68ern Tradition – und vor allem dringend nötig.
Die Folgen des Anschlags
Auf beiden Seiten des alten Bahnhofs fehlt es an Wissen über das jeweilige Gegenüber. Begegnungen zu schaffen und Austausch zu ermöglichen versucht Fichte etwa mit der Stadtteilkonferenz. An vielen Stellen, auch durch den Einsatz des Schauspiels vor Ort, gelingt das schon. Vor allem seit dem rechtsextremen Anschlag 2004.
Zum einen habe dieser auf traurige Weise dem Viertel zu Aufmerksamkeit verholfen, zugleich wird „ein sehr viel heterogeneres Viertel“ durch ihn noch öfter auf das reduziert, was das Anschlagsziel der Täter war: den Islam.
Sehr viel abwechslungsreicher ist die Wirklichkeit. Etwa im „Bunten Kinderland“ des Vereins Arbeitskreis für das ausländische Kind mit seinem Kindergarten. Schon die Eltern der Kinder haben ihn meistens schon besucht.
Leiterin Angelika Wirges hat es mit ihrem Kampf für eine Sanierung des Spielplatzes in ihrem Hinterhof geschafft, aus einer verwahrlosten Kiffer-Ecke im Schatten der Hochhäuser am Genovevabad eine Oase für Kinder und Eltern zu machen. Ein Graffiti hinter der Tischtennisplatte symbolisiert die Hoffnung für ein ganzes Viertel: auf die Nagelbombe folgt eine stärkere, bunte, friedliche Kraft. Der Zusammenhalt, er ist nun noch größer.