Langzeitarbeitslose sind oft schwierige Klienten. Behörden testen eine neue Methode: Einfach hinfahren und klingeln. Die Erfolge sind erstaunlich.
„Aufsuchende Beratung“Jobcenter sucht Langzeitarbeitslose an der Haustür auf
Immerhin will er jetzt sogar wieder essen. Was ja schon mal eine gute Nachricht ist, weil Herr M. zuletzt sehr häufig gar nicht gegessen hatte. Nicht nach dem Tod seines Kindes, nicht, nachdem er nach der Trennung von seiner Partnerin auf der Straße gelandet war, und auch nicht, nachdem ein Mann in der Unterkunft vor zwei Wochen die Tür seines Zimmers eingetreten, ihm ein Messer an den Hals gehalten und alles geklaut hatte, sogar die Kleidung.
70 Kilo hat er in den letzten Monaten verloren. Er muss mal füllig gewesen sein. Das kann man jetzt nur noch ahnen. Schmal, weite Kleidung, voller Rucksack auf dem Rücken, so kommt er gerade nach Hause. „Schön, Sie zu sehen“, sagt Fatma Edeer-Cetin, die gerade vergeblich an seine Tür geklopft hatte.
Er komme gerade vom Einkaufen, sagt er leise. Was denn los sei? „Sie sind nicht zu Ihrem Termin gekommen“, antwortet die Frau vom Jobcenter. „Da haben wir uns ein bisschen Sorgen um Sie gemacht.“ Was ja, für eine Behörde, erst mal ein bemerkenswerter Ton ist: „Sorgen gemacht.“
960.000 Langzeitarbeitslose in Deutschland
Herr M., 33 Jahre alt, Hotelkaufmann, arbeitslos, gehört zu den schwierigsten Klienten der Jobcenter in Deutschland: zu jenen, zu denen jeder Kontakt abgerissen ist. Die seit mindestens einem halben Jahr weder auf Anrufe noch auf E-Mails oder Briefe reagiert haben. Herr M. ist einer der Verschollenen.
Fatma Edeer-Cetin wiederum, 41 Jahre alt, Fallmanagerin, seit acht Jahren beim Jobcenter, ist eine von denen, die das ändern sollen – die aus den Verschollenen wieder Erreichbare machen. Ganz praktisch heißt das in der Regel erst mal: einfach mal hinfahren und klingeln. Dingdong, hier ist Ihr Jobcenter.
Man vergisst es angesichts der Debatten um den Fachkräftemangel und all der Gesucht-Anzeigen leicht, aber: Arbeitslosigkeit gibt es immer noch. 960.000 Menschen sind in Deutschland schon seit mehr als einem Jahr ohne Job und gelten als langzeitarbeitslos. Das ist die jüngste Zahl aus dem Februar.
Vielen fehlt eine Qualifikation, sie sind Kräfte, aber nicht Fach-. Andere wollen nicht arbeiten, oder sie können nicht, weil sie Angehörige pflegen oder krank sind. Bei vielen aber weiß man auch schlicht nicht, was sie an der Arbeitsaufnahme hindert. Weil die Behörden den Kontakt zu ihnen verloren haben.
Die Jobcenter in Deutschland haben deshalb seit vergangenem Jahr eine neue Aufgabe. Sie sollen „aufsuchende Beratung“ leisten, so steht es im Gesetz. Das heißt: Einfach mal weg vom Schreibtisch, hin zu den Menschen. Für viele Behörden ist das neu. Und deshalb fragen viele von ihnen jetzt erst mal in Kassel nach, wie das denn wohl geht.
Ein Urteil und die Folgen
Cornelia Hellmer, Teamleiterin im Jobcenter Kassel, hatte die Idee zu dem Projekt schon 2019. Damals war sie Leiterin des Teams für die Jugendlichen – und merkte, dass die Jugendlichen praktisch kaum mehr erreichbar waren, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Leistungskürzungen, wie bei den Erwachsenen, in der Regel auf höchstens 30 Prozent begrenzt und die komplette Streichung für verfassungswidrig erklärt hatte. Es ist jene Regelung, die die Union künftig wieder rückgängig machen will, mit ihrer Forderung, sogenannten Verweigerern die Unterstützung letztlich auch komplett streichen zu können.
70 Prozent des normalen Satzes können ganz auskömmlich sein, wenn man noch bei den Eltern wohnt. „Da hatten meine Berater volle Kalender, aber es kam keiner mehr.“ Also gründeten sie ein Team. Aber nicht nur für Jugendliche, sondern für alle. Es gab ja genug Fragen: Wollen die nur das Geld? Brauchen sie Hilfe? Gibt es die überhaupt noch? „Die Antworten“, sagt Cornelia Hellmer, „die bekommen Sie nicht einfach vom Schreibtisch aus, indem Sie Menschen einladen und sagen: Okay, kommt nicht, dann schicke ich den nächsten Termin raus.“ Das werde, findet sie, spätestens beim zwölften nicht wahrgenommenen Termin leicht absurd. „Das war mir, wenn ich das mal so sagen darf, irgendwie zu blöd.“
Es dauerte dann bis 2022, bis sie anfangen konnten. Weil zwischendurch noch Corona kam. Erst verzögerte die Pandemie das Projekt. Und dann machte sie es umso dringender, weil die Leute erst nicht rausdurften – und sich viele dann nicht mehr trauten. Die psychischen Probleme, so ihre Erfahrung, hatten in der langen Ausnahmesituation massiv zugenommen. „Das Projekt“, sagt Hellmer, „passte perfekt in die Zeit. Leider, könnte man sagen.“
Zum Thema gehören zwei Frauen und ein Mann. An diesem Morgen Mitte März gehen sie auf ihre Tour: Fatma Edeer-Cetin, studierte Politikwissenschaftlerin, Verfechterin von Artikel 1 des Grundgesetzes, von Beginn an dabei. Und Sascha Riepel, vorher 17 Jahre Fallmanager am Schreibtisch, früherer Fußballer, vor drei Monaten ins Team unterwegs gewechselt, eher der Mann für Handfeste.
„Mich nervt es, wenn Menschen sich anmaßen, über andere zu urteilen“, sagt sie auf der Fahrt zum ersten Kunden, „ohne deren Leben zu kennen.“ „Es ist einfach, nur den leichten Weg zu gehen“, sagt er, nach 17 Jahren am Schreibtisch, „aber ich finde es interessanter, auch mal den schweren Weg zu gehen.“ Es geht in diesem Job wahrscheinlich kaum ohne eine gewisse Ration Idealismus.
Fatma Edeer-Cetin und Sascha Riepel kündigen sich an. Indem sie eine Postkarte schreiben, eine Nachricht, hallo, wir hätten gern Kontakt mit Ihnen, dazu ein Zeitfenster, drei Stunden groß. Aber oft passiert das, was auch an diesem Tag gleich beim ersten Stopp passiert – und dann immer wieder. Ein Zweifamilienhaus, ein Gitterzaun auf dem Weg zur Tür, abblätternder Lack. Eine Klingel ohne Namen. „Doch, der wohnt da“, sagt ein Nachbar.
Ein Toter hinter der Tür
Klingeln. Keine Reaktion. Klopfen. Keine Reaktion. Ein Fenster steht auf Kipp, ein Blick hinein, nichts. Fatma Edeer-Cetin hatte mit dem Mann vor einigen Tagen telefoniert, er hatte sich auf ihren Flyer gemeldet, „das klang eigentlich positiv“. Sie will sich nicht entmutigen lassen.
Deshalb wirft sie ihm den nächsten Zettel in den Briefkasten. „Leider konnten wir Sie nicht antreffen. Das ist schade“, steht darauf, „denn Ihre Situation ist uns sehr wichtig.“ Und dass sie wiederkommen, in zwei Wochen, zwischen drei und sechs. „Bitte seien Sie zu Hause.“
Der Nächste, Herr K., 61 Jahre alt, öffnet auch nicht. Aber da kann Sascha Riepel auch keinen Zettel hinterlassen, weil der Briefkasten bis obenhin voll ist, wohl seit Wochen nicht geleert. Sie werden ein anderes Team verständigen, das dem nachgehen soll.
Es könnte alles sein, sagt Fatma Edeer-Cetin. Krankheit, auch Tod, sie hat das alles schon erlebt. Einmal hörte sie aus einer Wohnung leise Rufe. Da war der Bewohner von der Leiter gefallen, lag bewegungslos am Boden und brauchte dringend Hilfe. Ein anderes Mal nahm sie vor der Tür einen stechend-süßlichen Geruch wahr. Der Mann, der dort wohnte, so stellte es die Polizei später fest, lag schon seit Wochen tot da. Fatma Edeer-Cetin ging zur Beerdigung. „Aber da war ich, mit einer anderen Person, die Einzige.“
Dann fahren sie zu Herrn B. 25 Jahre alt, psychische Probleme, die sie kennen. Ein Mehrfamilienhaus, die Mutter öffnet.
„Ist Ihr Sohn da?“
„Nee.“
„Geht es ihm gut?“
„Kommt immer drauf an.“
„Wir haben uns ein bisschen Sorgen um ihn gemacht.“
„Manchmal hat er seine Schwierigkeiten, dann geht er nicht raus. Und er öffnet seine Briefe nicht.“
Kritik am Projekt
Später wird Fatma Edeer-Cetin sagen, dass fast alle ihre Gründe haben. Sie ist bei ihren Touren auf Menschen getroffen, die tatsächlich einfach nur nicht arbeiten wollten. „Einer wohnte sogar in einer Villa.“ Aber die allermeisten hätten das, was in der Behördensprache „multiple Vermittlungshemmnisse“ heißt. Schulden, psychische Probleme, Krankheiten. „Die wenigsten sind wirklich freiwillig in dieser Situation.“
Dennoch steht die Arbeit des Kasseler Teams unter Verdacht. Wenn irgendwo in den Medien mal wieder ein Bericht über ihr Projekt erscheint, dann, sagt Cornelia Hellmer, zögere sie jedes Mal, bevor sie die Kommentare unter den Berichten liest.
Die Kritik kommt aus zwei Richtungen. Die einen schreiben: „Lasst euch nicht täuschen, das ist doch alles bloß staatliche Kontrolle.“ Die anderen poltern, dass Arbeitslose Härte bräuchten, keine fürsorglichen Besuche. „Wollt ihr die“, fragte neulich jemand, „vielleicht noch in der Sänfte durch die Gegend tragen?“
Aber meistens verkneift sich Cornelia Hellmer jeden Kommentar. Weil das Projekt zu kompliziert ist, um es auch jenen zu erklären, die längst ein festgefügtes Bild haben. „Wir sind da, um Menschen so weit zu ganz kleinen Schritten zu bewegen, dass sie irgendwann wieder in Lohn und Brot kommen“, sagt sie. „Wir sind aber auch dazu da, um nachzuschauen, ob eine Wohnung leer ist oder es jemanden nicht mehr gibt, und dann zu sagen: Stellt die Leistung sofort ein.“
Bestes Argument sind Zahlen
So wie an diesem Nachmittag, als Sascha Riepel und Fatma Edeer-Cetin vor einer Wohnungstür stehen, drinnen alles dunkel, außen hängt noch ein Weihnachtskranz, unter Spinnweben. Der hier leben soll, wird bald Post bekommen, sagt Riepel. Die Ankündigung, dass ab April kein Geld mehr kommt. Mal sehen, sagt Riepel, ob dann jemand reagiert.
Seine Kollegin Edeer-Cetin klemmt noch einen kleinen Zettel in die Tür. Um bis zum nächsten Besuch zu sehen, ob mal jemand drin war. Manchmal sind sie nebenbei auch Detektive.
Aber das beste Argument, wenn jemand an ihrer Arbeit zweifelt, sind wohl immer noch die Zahlen. 880 Personen – Kunden – haben sie in den vergangenen zwei Jahren aufgesucht. Die wenigsten, 34, hätten am Ende gar keinen Kontakt gewollt. 55 würden dagegen inzwischen wieder arbeiten. 55 Personen, für die der Staat keine rund 1200 Euro im Monat mehr zahlen muss. Dazu kämen die Fälle, in denen sie leere Wohnungen entdeckten, Betrug also. Für Cornelia Hellmer steht deshalb fest: „Das Projekt rechnet sich.“
Aber um so weit zu kommen, ist das Treffen an der Tür, der erste Kontakt, nur der Anfang. Oft, im nächsten Schritt, treffen sie sich mit ihren Kunden in einem Sozialcafé im Kasseler Norden. Es ist ein Ort, wo Menschen arbeiten, die selbst Mühe haben, in den Arbeitsmarkt zurückzufinden – und an dem Sascha Riebel und Fatma Edeer-Cetin mit ihren Klienten alles besprechen, was schiefgelaufen ist.
Da geht es dann, wie heute, zum Beispiel um Alkohol. Um die Zeit im Gefängnis. Die Arbeit früher, als Schausteller, auf fahrenden Märkten. Oder um das Ergebnis der Biopsie, die der Arzt am Morgen genommen hat, Verdacht auf Krebs. Am Ende vermitteln sie die Menschen an „Life-Coaches“, Berater, die mit den Klienten dann in den nächsten Wochen ihr Leben etwas ordnen.
Mit Herrn M., dem Mann, der so lange nicht gegessen hat, waren die sie eigentlich auch schon weit. Bis er dort, im Sozialcafé, zu den Beratungen, nicht mehr erschien. Jetzt stehen Fatma Edeer-Cetin und Sascha Riepel mit ihm vor seinem Zimmer in einer Kasseler Notunterkunft. In der Tür noch die beiden Löcher, die der Einbrecher hineingeschlagen hat.
Warum er zuletzt nicht gekommen ist? Herr M. spricht leise, erzählt von dem, was ihm beim Einbruch gestohlen wurde. Die Kleidung. Was er jetzt trägt, hat er vom Jobcenter. Der Computer, auf dem er die einzigen Bilder vom Grab seines Kindes hatte. „Eigentlich“, sagt er fast unhörbar, „will ich nur noch hier weg.“ Bis dahin, sagt er noch, könne er an nichts denken. Nicht an Arbeit und nicht an etwas anderes.