Köln/Düsseldorf/Gelsenkirchen – Bitte nicht wundern. Auch am Militärring in Höhe der Marienburger Feuerwache kurz vor dem Bonner Verteiler werden die wundersamen Gestalten in den kommenden Wochen wieder stehen. An der Zählstation 51072213 bei Kilometer 0,203, Abschnittsnummer 32, und das tun, was sie eigentlich schon im Vorjahr hätten tun sollten, bevor die Pandemie sie ausgebremst hat. Mit Handzählern, Kugelschreiber und einem Formular, das jeder Digitalisierung Hohn spricht.
Wörter wie „Kraftomnibus“ werden noch immer verwendet
Anfang April hat die bundesweite Verkehrszählung begonnen, die normalerweise alle fünf Jahre ansteht, in Nordrhein-Westfalen organisiert von der Landesmobilitätszentrale in Leverkusen. Sie wird sich bis Ende September hinziehen, und die Zähler werden dabei Formulare verwenden, auf denen noch Begriffe wie „Kraftomnibus“, „Kombinationskraftwagen bis neun Sitze“ und das „Sattelkraftfahrzeug“ auftauchen.
Die meisten Daten werden auch in NRW längst automatisch erfasst, über Induktivschleifen in den Fahrbahnen und Seitenradargeräten am Straßenrand. Und immer mehr Handzähler werden durch Videokameras ersetzt, diese Daten IT-gestützt in den Büros ausgewertet. Doch ganz auf sie verzichten kann die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) nicht. „Wir müssen den Verkehr alle fünf Jahre in einem feinmaschigen Netz manuell erfassen“, sagt BASt-Sprecherin Iris Schneidermann. „Überall Dauerzählstellen einzurichten, wäre unwirtschaftlich.“
Verkehrszähler werden Millionen Daten liefern
Mehr als 8500 Zählstellen werden bis zum 14. Oktober Millionen von Daten liefern – das ist die Basis für die Aussagen über die Verkehrsentwicklung der kommenden Jahre. Doch wie aussagekräftig werden sie sein? Wie wird sich der Verkehr im bevölkerungsreichsten Bundesland nach Corona entwickeln? Was wird aus der angestrebten Verkehrswende?Die monatlichen Auswertungen der Bundesanstalt im Jahr 2020 haben zumindest eins gezeigt: Nach dem durch den Corona-Lockdown bedingten deutlichen Einbruch im Frühjahr hat sich die Verkehrslage auf den Autobahnen und Bundesstraßen in NRW wieder dem durchschnittlichen Verkehr angenähert.
Homeoffice statt pendeln
Im November 2020 – das sind die aktuellsten Zahlen einer Umfrage des ADAC – ist der Anteil der Menschen, die noch täglich zur Arbeit fahren, von 66 Prozent vor der Corona-Krise auf 48 Prozent gesunken. Mehr als jeder Siebte legt gar keine entsprechenden Wege mehr zurück, ist also offenbar vollständig ins Homeoffice gewechselt.
Klingt gut, bedeutet für das Pendlerland Nordrhein-Westfalen aber nur bedingt eine Entlastung auf den Autobahnen und Bundesstraßen. „Der öffentliche Nahverkehr ist der große Verlierer der Pandemie“, sagt ADAC-Verkehrsexperte Roman Suthold. „Noch immer ist unklar, wie hoch das Infektionsrisiko in Bussen und Bahnen ist. Das schreckt viele Pendler ab. Wenn sich die Fahrgastzahlen nach der Pandemie nicht berappeln, haben wir aus Klimasicht ein echtes Problem.“
Homeoffice habe großes Potenzial zur Lösung der Verkehrsprobleme auf der Straße. „Wenn der Verkehr nur um wenige Prozent reduziert wird, hat das einen überproportional großen Effekt auf die Stausituation“, sagt Suthold. Zehn bis 15 Prozent weniger Verkehr könnten zu 50 Prozent weniger Staus im bevölkerungsreichsten Bundesland führen. Derzeit sehe es aber eher danach aus, als werde der Homeoffice-Vorteil dadurch aufgefressen, dass die Menschen von der Schiene auf das Auto umsteigen.
Auto als Schutzzone
„Es gibt eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit“, sagt Suthold. „Moralisch sind wir uns alle einig, dass wir etwas gegen den Klimawandel unternehmen müssen. Aber solange das Auto das bequemste Verkehrsmittel bleibt, werden die Leute auch weiterhin mit dem Pkw zur Arbeit fahren. Bequemlichkeit sticht Moral. Außerdem hat das Auto in der Corona-Pandemie deutlich an Attraktivität hinzugewonnen, weil es im Gegensatz zum ÖPNV einen persönlichen Schutzraum bietet.“
ÖPNV-Zahlen sinken
Weg von der Schiene. Diesen Trend belegen die Zahlen der im Verkehrsverbund Rhein-Sieg (VRS) zusammengeschlossenen Verkehrsunternehmen. Im Februar lagen die Fahrgastzahlen bei 35 Prozent des Vor-Corona-Niveaus. Im Januar (37 Prozent) und Dezember (39 Prozent) sah das kaum besser aus. In einer aktuellen Befragung des VRS vom März haben 54 Prozent der Berufstätigen angegeben, derzeit zumindest ab und zu im Homeoffice zu arbeiten. Vor der Pandemie war es weniger als jeder dritte. 25 Prozent der Pendler haben angegeben, seltener den öffentlichen Nahverkehr künftig zu nutzen.
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Doch was tun? „Wir müssen darauf hinwirken, dass die Investitionen nach Corona wieder in Richtung Mobilitätswende gelenkt werden“, sagt VRS-Geschäftsführer Michael Vogel. „Der Nahverkehr ist nicht nur ein Beförderungsmittel, sondern ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und eine Antwort auf den Klimawandel.“ Der VRS müsse mit neuen Angeboten auf eine neue Arbeitswelt reagieren. „Homeoffice wird sicher ein Teil des neuen Alltags bleiben“, so Vogel.
Die ersten Schritte sind gemacht. Ein Schnupper-Abo mit einer auf vier Wochen verkürzten Kündigungsfrist soll kommen. Ab 1. Mai haben Abo-Kunden nach monatelangen Verhandlungen das Recht auf eine Erstattung, wenn sie ihr Ticket nicht nutzen können. Auch an neuen Formen des Jobtickets wird gearbeitet. So soll es ab 1. Mai Dauerkarten geben, die nicht für den gesamten Verbund, sondern nur für den Weg zwischen Arbeit und Wohnort gelten.
Beim ADAC stoßen diese Pläne auf Zustimmung. Der ÖPNV müsse als echte Alternative wahrgenommen werden, sagt Roman Suthold. „Dafür braucht es ein attraktives Preis-Leistungsverhältnis und viel flexiblere Tarife. Wenn Arbeitnehmer künftig nur noch dreimal die Woche ins Büro fahren, lohnt sich ein klassisches Monatsticket nicht mehr. Auch Gelegenheitsnutzern müssen passende Angebote gemacht werden.“
Auswirkung auf Straßenbau?
Wenn ein Gesamtpaket aus einem attraktiven Nahverkehr und mehr Arbeit im Homeoffice dazu führe, dass die Staus auf den Autobahnen abnehmen, könne das auch Folgen für die Verkehrsplanung der Fernstraßen in NRW haben. „Natürlich muss man dann auch darüber reden, ob der achtstreifige Ausbau der A 3 zwischen Hilden und Leverkusen noch sinnvoll ist oder eine Ertüchtigung des Standstreifens für die Nutzung zu Stoßzeiten nicht ausreichend ist“, sagt der ADAC-Experte.
Winfried Hermann, grüner Verkehrsministerin Baden-Württemberg und ehemaliger Autonarr, habe in einem kleinen Buch skizziert, wie diese Art der Verkehrswende aussehen könnte. Der Titel: „Und bleibt alles anders – meine kleine Geschichte der Mobilität“. „Sehr lesenswert“, urteilt der ADAC-Verkehrsexperte.