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Paartherapeutin zieht Bilanz„Unsere Gesellschaft wird beziehungsfeindlicher“

Lesezeit 8 Minuten
In Hintergrund unscharf zu sehen: ein Paar auf einem Sofa, das zuhört. Rechts im Vordergrund angeschnitten eine Person, die handschriftliche Aufzeichnungen anfertigt.

Es ist für Paare schwerer zusammenzukommen, sagt Christa Schulte. 40 Jahre lang hat die Therapeutin Paaren geholfen. (Symbolbild)

Fast 40 Jahre lang hat Christa Schulte Paaren als Therapeutin geholfen – nun geht sie in Rente und blickt zurück: Wie haben sich unsere Beziehungen verändert? Sind Paare heute zufriedener als in den Achtzigern? Haben wir es mit einer Beziehungsfeindlichkeit zu tun? Oder stimmt sogar beides?

Frau Schulte, Sie haben als Paartherapeutin knapp vier Jahrzehnte lang versucht, kriselnde Partnerschaften zu retten, und gehen jetzt in Rente. Ihrer Erfahrung nach: Was machen wir falsch in Beziehungen?

Christa Schulte: Wir machen die Liebe zur Nebensache. Weil der Alltag so viel Anforderungen hat mit Arbeit, mit Kindererziehung, mit Haushalt, mit allem Möglichen, das Energie frisst. Und viele können abends nur noch die Couch Potato machen. Erst Fernsehen, dann Bett. Weil mehr Energie einfach gar nicht mehr drin ist.

Kommt mir bekannt vor.

Ja, natürlich. Das ist normal inzwischen. Gerade bei Paaren, die in der Rushhour des Lebens sind. Da muss dies und jenes noch gemacht werden, Termine hier, Termine dort, und dann ruft auch noch der Steuerberater an.

Die Liebe leidet unter dem Mangel an Raum, der ihr zugestanden wird.
Christa Schulte

Sie sagen „Inzwischen“. Haben Sie den Eindruck, dass dieses Grundrauschen stärker geworden ist im Vergleich zu den Achtzigern, als Sie angefangen haben?

Sehr viel stärker. Früher gab es mehr Arbeitsstellen von 9 bis 17 Uhr, und dann war Feierabend. Da wurde noch der Einkauf gemacht oder Abendessen und dann gab es auch Zeit zu zweit. Heute ist der Alltag sehr viel zerklüfteter, durch Homeoffice, durch unterschiedliche Arbeitszeiten, durch ständige Erreichbarkeit. Es ist für Paare schwerer zusammenzukommen.

Das ist die Arbeitswelt, die sich geändert hat – aber auch die Einstellung der Menschen zur Beziehung oder zur Liebe an sich?

Das eine ergibt sich aus dem anderen: Die Liebe leidet unter dem Mangel an Raum, der ihr zugestanden wird. Forschungen haben ergeben, dass deutsche Paare heute im Schnitt nur rund fünf Minuten für qualitative Kommunikation nutzen, in der es nicht um Alltägliches geht. Der Rest ist: Wer kocht heute Abend, wer bringt den Müll raus.

Kochen und den Müll rausbringen musste man früher auch.

Ja, aber früher gab es mehr feste Rollen, wer für was zuständig war. Wenn die Rollen aufweichen, differenzierter werden, gibt es mehr Klärungsbedarf.

Reelle Beziehungen sind nicht beliebig wechselbar, brauchen Konstanz.
Christa Schulte

Die Emanzipation hat die Liebe komplizierter gemacht?

Ja, durchaus. Man muss darauf achten, dass diese formalen Diskussionen nicht überhandnehmen.

Die Frau am Herd, der Mann im Büro wäre besser?

Nein, das offenere, individuellere Leben ist natürlich ein Fortschritt. Aber generelle Festlegungen zur Arbeitsteilung im Alltag helfen, um diese ständigen Organisationsgespräche zu begrenzen, und das tut vielen Paaren sehr gut. Aber um es noch mal klar zu sagen: Insgesamt sind differenziertere Rollen besser, bedeuten mehr Abwechslung und Zufriedenheit. Früher war es oft so, dass Frauen und Männer unter der Einseitigkeit ihrer jeweiligen Rolle gelitten haben. Und dass sie diese Unzufriedenheit auch länger in sich hineingefressen haben als heute.

Gab es früher mehr Sprachlosigkeit?

Deutlich. Mehr Hemmungen, über Gefühle zu sprechen, über Sexualität vor allem, die intensivste und intimste Kommunikation und der dichteste Liebesausdruck, den wir haben. Das lag auch an der damals sehr limitierten Sprache zur Sexualität. Da gab es fast nur den Mediziner-Jargon und den Freier-Jargon. Beides ist nicht so erstrebenswert. Das eine zu sachlich, das andere zu schmutzig. Das ist heute differenzierter, gefühlvoller.

Dabei ist die Pornografie, die heute grenzenlos im Netz verfügbar ist, meist weniger gefühlvoll.

Das ist wirklich ein Problem. Gerade bei den jungen Paaren. Die Jungs fangen ja schon an, ab zwölf, 13 Jahren Pornos zu gucken. Die Folge davon ist, dass bei Jungs und später jungen Männern ein enormer Leistungsdruck entsteht, was sie angeblich so bringen müssen. Und bei Mädchen und jungen Frauen oft dieses Gefühl, ich muss mir Dinge gefallen lassen, die ich eigentlich nicht so mag. Es gibt online ja deutlich die Tendenz, dass Pornografie immer härter, die Reize stärker werden müssen. Da werden falsche Maßstäbe gesetzt, auch ästhetische natürlich.

Unrealistische Schönheitsideale?

Ja. Ich hatte vor ein paar Jahren ein Paar, das sich dringend Kinder wünschte, aber es klappte nicht mit dem Sex. Weil er meinte, sie entspräche nicht mehr seinem Schönheitsideal. Sie war klein und zierlich, und er hatte die per Photoshop verlängerten Beine der Frauen im Internet im Kopf. Dann habe ich ihm die Aufgabe gegeben, er solle sich die Augen verbinden und sie nur mit den Händen fühlen. Schwupps waren die Pornobilder weg, und das Liebesleben funktionierte wieder. Wir definieren Ästhetik heute viel mehr über das Sehen als über das Fühlen, das war früher anders, auch, weil es weniger Pornos gab.

Bleiben wir noch kurz beim Thema Internet, das ist ja eine der größten Veränderungen zwischen den Achtzigern und heute. Welche Effekte auf Paare machen Sie da noch aus?

Das Internet trägt zu einem Zeitgeist bei, bei dem viele sich emotional nicht mehr so klar festlegen, sondern im Hinterkopf haben: Na, ich schau mal, was es da noch so gibt. Mittlerweile zielen Dating-Portale auch auf Menschen ab, die in Beziehungen sind und sexuelle Freuden mit anderen suchen. Schwerwiegend ist, dass diese Portale eine Beliebigkeit und Verfügbarkeit potenzieller Partnerinnen und Partner vorgaukeln, die es so in Wirklichkeit gar nicht gibt. Reelle Beziehungen sind nicht beliebig wechselbar, brauchen Konstanz und Hingabe.

Gab es davon früher mehr?

Nach meinem Eindruck zumindest mehr Bereitschaft, Krisen miteinander durchzustehen. Ehen hatten einen höheren Stellenwert als gegenseitige Versorgungsvereinbarungen. Wobei früher natürlich auch noch stärker ökonomische Zwänge aufseiten der Frauen mit reingespielt haben, die Ehen mitunter nur hielten, weil sie Zweckgemeinschaften waren. Aber die Einstellung „bis dass der Tod euch scheidet“ und dafür auch mal zu kämpfen, schlechte Zeiten durchzustehen, die hat schon abgenommen.

Die Statistik ist da uneindeutig. Die Ehedauer geht runter, liegt im Schnitt nunmehr bei unter 15 Jahren. Die Scheidungsrate geht in den vergangenen Jahren aber ebenfalls leicht zurück.

Ja, ich schätze, da zeigen sich widerstreitende Entwicklungen. Auf der einen Seite die höhere Bereitschaft, einen Schlussstrich zu ziehen, auch wegen größerer wirtschaftlicher Unabhängigkeit der Frauen. Auf der anderen Seite, und das beobachte ich auch ganz stark, das größere Bewusstsein, dass Kinder bei einer Scheidung leiden, auch wenn die ganz gesittet abläuft. Das nehmen Eltern viel ernster als früher und bleiben viel öfter wegen der Kinder zusammen.

Ist das gut oder schlecht?

Erst mal gut für die Kinder. Obwohl, wenn die Eltern sich dann dauernd streiten, hilft es auch niemandem. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass Eltern, die denken, ihre Liebesbeziehung sei unwiederbringlich dahin, und nur wegen der Kinder zusammenbleiben, zumindest als Elternpaar solidarisch handeln. Es kann sich lohnen, Durststrecken durchzustehen. Aber das wird schwieriger in unserer Gesellschaft, die im Grunde beziehungsfeindlicher wird.

Inwiefern?

Wegen dieses zunehmend vorherrschenden Prinzips höher, schneller, weiter. Es ist ein Prinzip, das sich auf den oder die Einzelne bezieht, der oder die funktionieren soll, im Job, im Alltag. Und das der Tatsache widerspricht, dass Paare mehr Zeit und Raum brauchen, mehr Energie brauchen, um ihre Beziehung zu pflegen.

Interessenkonflikte muss man austragen und nach Kompromissen oder ganz neuen Lösungen suchen.
Christa Schulte

Man bekommt den Eindruck: 1985 ging es Paaren besser als heute.

Ach, wissen Sie, ich würde trotz der genannten bedenklichen Entwicklungen sagen, dass es Paaren alles in allem heute besser geht. Weil Paare heute insgesamt aufgeklärter sind, was Beziehungsprobleme angeht, offener über Gefühle sprechen. Weil sie viel mehr Hilfen bekommen können durch Ratgeberbücher und Therapeutinnen und Therapeuten – und weil sie diese Hilfe auch bereitwilliger annehmen.

Sie kommen also schneller zu Ihnen als früher?

Ja, früher kamen Paare oft erst, wenn es schon zu spät war. Die brauchten keine Paartherapie mehr, sondern eine Trennungsbegleitung. Heute kommen schon jüngere Paare, die schwierige Entwicklungen in ihren Beziehungen ausgemacht haben und quasi präventiv dagegen angehen wollen. Aber die meisten Paare, früher wie heute, sind mittleren Alters, die in der Rushhour des Lebens merken, dass neben Job, Haushalt und Kindern die Beziehung auf der Strecke zu bleiben droht. Das ist und bleibt der Klassiker.

Und ältere Paare?

Kommen allmählich auch mehr als früher. Wenn der Renteneinstieg da ist und Pappa ante portas nicht funktioniert. Dann gibt es Streit, mehr als früher, was an sich ja gut ist.

Streit ist gut?

Besser als Sprachlosigkeit. Wenn unsere Streitkultur besser wäre, würden mehr Beziehungen halten. Interessenkonflikte muss man austragen und nach Kompromissen oder ganz neuen Lösungen suchen. Das wird tendenziell besser, aber noch immer hängen zu viele Paare einem falschen Harmonieideal an, nach dem alles friedvoll und ohne viele Worte gelöst werden müsste.

Wie man sich offen auseinandersetzt und trotzdem nicht entzweit: Das muss man lernen, und das sollte meiner Meinung nach auch in der Schule viel stärker trainiert werden.
Christa Schulte

Harmonie ist überbewertet?

Wenn sie idealisiert wird, führt das dazu, dass schwelende Konflikte nicht ausgetragen werden und wachsen. Nein, man sollte sich offen und konfrontativ auseinandersetzen, dann aber auch verzeihen und Differenzen akzeptieren. Man kann nicht immer einer Meinung sein, und wenn im Streit mal einer über das Ziel hinausschießt, sollte man nach einer glaubhaften Entschuldigung nicht zu nachtragend sein.

Das fällt vielen schwer.

Ist aber wichtig. Man muss Dinge auch abhaken können. Ich sage den Paaren, die zu mir kommen, immer: Wir können hier nicht alle vergangenen Meinungsverschiedenheiten aufarbeiten. Dann sind wir in zehn Jahren noch dabei. Das Geld wollen Sie sicher nicht investieren.

Zum Schluss nach vorn geblickt: Was würde besonders helfen, um Partnerschaften zukünftig stabiler und krisenfester zu machen?

Zum einen wie eingangs erwähnt sich mehr Zeit für bewusste Zweisamkeit zu nehmen und den alltäglichen Organisationsstress durch klare Absprachen und Arbeitsteilung zu begrenzen. Zum anderen ist die Streitkultur ganz wichtig. Wie man sich offen auseinandersetzt und trotzdem nicht entzweit. Das muss man lernen, und das sollte meiner Meinung nach auch in der Schule viel stärker trainiert werden.

Ein Schulfach „Richtig streiten“?

Warum nicht? Das würde nicht nur den Paaren weiterhelfen, sondern uns als Gesellschaft insgesamt. Denn eine friedliche Gesellschaft entsteht nicht durch Verschweigen und Verleugnen, sondern unter anderem durch offene Kommunikation auf Augenhöhe.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.