In der hiesigen Popmusik erlebt Italien gerade eine bemerkenswerte Renaissance. Warum eigentlich? Ein Abend mit der deutschen Italo-Kitsch-Sensation Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys in Meran.
Roy Bianco und Co.Warum Italien plötzlich das Sehnsuchtsland des deutschen Pop ist
Die Wirklichkeit Italiens ist dann doch hin und wieder tatsächlich ihr eigenes Klischee. Anders kann man sich diesen sündhaft schönen Südtiroler Tag nicht erklären. Er steht da im Alpenraum wie ein Gemälde von Canaletto, sanfte Linien, ein Himmel aus tausend Farben, die Sonne wirft sich mit Verve in die Hänge, die den Talkessel umspielen, Wolken reiben sich ihre Bäuche an den Gipfeln. Meran, Kurort der Träume, wo sich Bergwelt und Mittelmeerraum die Hand reichen, wo Palmen und Zypressen, kaum ist man über den Brenner, schon von mediterraner Herrlichkeit künden. Alles hier ist Kitsch, in Natur gegossen, aus Stein erbaut.
Seine Brechung erfährt das real existierende Klischee an diesem Tag im Juni aber ausgerechnet durch die, die hierhergekommen sind, um dieses Ideal von Italien zu feiern. Sie tragen T-Shirts, auf denen „Salute, alles Gute“ steht, „What if we kissed at Schlagerstrudel“ oder „Ich höre Italo-Schlager“. Sie tragen Fußballtrikots aus einer untergegangenen Ära, Diego Maradonas SSC Napoli, Andi Brehmes Inter Mailand, Nachbildungen freilich. Auffällig viele tragen das gleiche Strumpfmodell, darauf die angedeutete grün-weiß-rote Tricolore Italiano und eine kryptische Abkürzung, die nur entschlüsseln kann, wer zu den Wissenden zählt: RB&DAB.
Eine Band mit fiktiver Biografie
Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys – Deutschlands Italo-Kitsch-Sensation. Mit ihrem neuen Album „Kult“, dem mittlerweile dritten, sind sie vor Kurzem spektakulär in den deutschen Musikcharts gelandet, nonstop von null auf eins mit einer Grandezza wie ehedem die Alitalia. Die Band mit fiktiver Biografie – gegründet Anfang der Achtziger nach dem Kennenlernen der beiden Frontmänner in einer Silvesternacht in Sirmione am Gardasee, Erfolge, Preise, Trennung Mitte der Neunziger nach einem Streit, Comeback vor wenigen Jahren – gilt seit einiger Zeit als popkulturelle Speerspitze einer neuen deutschen Welle: Das alte Sehnsuchtsland Italien ist wieder sexy. Unter jungen Deutschen so sehr wie vielleicht noch nie.
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In Meran spielen Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys an diesem Wochenende im Juni zwei Album-Release-Shows. Die Konzerte in den Gärten von Schloss Trauttmansdorff sind ihre ersten überhaupt in Italien, restlos ausverkauft, die Tickets binnen Sekunden vergriffen. Glücklich, wer einer Eintrittskarte habhaft werden, ins Auto steigen und nun im Tross der Tifosi aus dem verregneten Deutschland Richtung Stiefel rollen konnte. Die meisten hier haben das so gemacht, gleichsam in einem Akt der Ehrerbietung den sechs aus Augsburg und München stammenden Musikern gegenüber: Einer ihrer Hits ist schließlich „Brennerautobahn“ vom Nummer-eins-Album „Mille Grazie“ von 2022.
„Auf der Brennerautobahn seh‘ ich uns nach Süden fahren / Halte Deine Hand und weiß, jetzt ist es gut / Dorthin wo es uns jetzt zieht, liegt ein Gebirge aus Granit / Und im Fahrtwind schon der Duft vom vollen Strand.“
Aus ganz Deutschland reisen die Fans an
Da sind die Schiffbaustudienfreunde aus Kiel, zwei Frauen, zwei Männer, alle Mitte zwanzig, die im Opel Corsa den irrsinnig langen Weg bis Meran gezuckelt sind. Da ist der Gartenlandschaftsbauer aus Niedersachsen, der mit dem Wohnmobil angereist ist, nur seinen Hund als Begleiter zur Seite. Da sind Menschen aus Leipzig, Münster, Hamburg, da ist der Bundespolizist, der eigentlich im Metalcore zu Hause ist, aber für das wirklich exzellente Songwriting von Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys gern eine Ausnahme macht. Da ist die Kinderkrankenpflegerin, die trotz gebrochenen Arms gekommen ist. Da sind die Augsburger, die die Band noch aus ihrer Anfangszeit um 2016 herum kennen, manche auch ihre echten Namen, frühere Projekte, alles gleichwohl auch für Unkundige mit wenigen Klicks in den Suchmaschinen dieser Welt aufzufinden.
Wirklich interessieren tut das aber eigentlich niemanden. Die Illusion lebt, soll leben. Sie ist so unecht wie das Italien, um das es hier geht.
Ein Videocall, wenige Tage vor dem Doppelkonzert in Meran. Die beiden Köpfe der Band, Sänger Roy Bianco und Hauptsongwriter Die Abbrunzati Boys, genannt Zanti, dessen Pluralname eine der vielen kleinen Humorvolten der Süddeutschen ist, sitzen abreisebereit vor dem Bildschirm. „Wir freuen uns wahnsinnig, dort zu spielen. Das ist natürlich was sehr Besonderes – auch, weil wir wissen, dass sehr viele Tifosi mit uns reisen werden und dafür lange Fahrzeiten in Kauf nehmen“, sagt Roy Bianco, der Mann mit der Günter-Netzer-Gedächtnisfrisur und dem in den Liedern so schön rollenden R auf der Zunge. „Das ist schon wahnsinnig toll und ein krasser Vertrauensvorschuss von unseren Fans, den wir bekommen. Das lässt uns immer wieder verwundert und überwältigt zurück, dass wir so viel Rückhalt genießen. Wir können im Ausland spielen, und man reist uns einfach hinterher. Genial.“
Eigentlich spielen sie ja immerzu im Ausland. Wo Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys sind – Gesang, Gitarre, Schlagzeug, Bass, Keyboard, Trompete –, ist Italien. Wo auch immer sie auftauchen in der Republik, entstehen für zwei Stunden kleine italienische Exklaven, treiben gedachte Olivenbäume in den Himmel, füllt sich in Gedanken der Lido, fließt nicht nur in Gedanken der Aperol, läuten sonor die Glocken des Campanile, legt sich über alles dieses süchtig machende mediterrane Licht. Ciao Ragazzi! Abende mit Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys sind Abende aus poliertem Carrara-Marmor. Italien, ein unvergleichlicher Lockstoff, noch immer.
Sich dem Moment hinzugeben, dieses Dolce-Vita-Gefühl zu spüren – dieser Bann ist ungebrochen
„Die Magie, die man fühlt, wenn man dort ankommt im heiligen Land des Urlaubs, wie wir es nennen, ist ungebrochen“, sagt Sänger Roy Bianco. „Man gibt so viel ab. Man lässt wirklich wortwörtlich seine Sorgen hinter den Alpen. Sich dem Moment hinzugeben, dieses Dolce-Vita-Gefühl zu spüren – dieser Bann ist ungebrochen. Und natürlich wissen wir gleichzeitig, dass das Italien, das man als Tourist dort erlebt, nicht das echte Italien ist. Es sind Illusionen und Verheißungen, die süßer sind, als es die Wirklichkeit sein kann.“
Was in der Musik von Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys verhandelt wird, ist nicht das Land selbst, sondern stilisierte Darstellungen von diesem Land. Italien als eine seidene Projektionsfläche deutscher Träume. „Die Sehnsucht nach Italien, die wir in unseren Liedern besingen“, erklärt Zanti, der Mann an der Gitarre, „ist niemals das Abbild von einem echten Italien – und es soll ja auch gar nicht das Abbild eines echten Italiens sein, sondern wir spielen mit Bildern einer bundesrepublikanischen Sicht auf ein Sehnsuchtsland, das es wahrscheinlich so auch nie gegeben hat, sondern nur in der Vorstellung der Deutschen existiert.“
Ihre Lieder heißen „Bella Napoli“, „Bardolino“, „Rimini Disco“, „Cosenza bei Nacht“ oder „Maranello“ – Orte, die nach Poesie klingen. Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys besingen sie in knallig ausgemalten Elogen, es sind musikalische Pop-Fresken, von denen das Pathos tropft, manchmal geht es dabei bis an den Schmerzpunkt des Stereotyps. In Meran singen sich die wartenden Fans, vor dem Eingang zu den Gärten von Schloss Trauttmansdorff ausharrend, mit „Ponte di Rialto“ auf Betriebstemperatur. Die Rialtobrücke in Venedig ist an sich schon ein den Canal Grande überspannendes steinernes Klischee. In Italo-Schlager-Deutsch klingt das dann so: „Und an der Ponte di Rialto / singen die Gondolieri von Amore / Unverhofft kamst du mir nah / in der Abendsonne von Venezia.“
Später spielen sie den Song im Zugabenteil, gerade haben sie das komplette „Kult“-Album aufgeführt, es war ein einziger Siegeszug. Spätestens jetzt hält es niemanden mehr, am Ufer der absurd hübschen Seebühne zu Füßen des Schlosses schunkelt man sich in einen Rausch, Fremde liegen sich in den Armen. Ein paar Regentropfen gehen nieder, lassen den See, auf dem die Spiegelungen der sechs Bandmitglieder schwimmen, zart hüpfen. In den Bergen blitzt es. Das ist die Magie der Musik. „Coldplay können einpacken!“, johlt ein Besucher hinterher. Autos ziehen auf dem Weg zurück in die Stadt vorbei, voll beladen mit beseelten Deutschen, Fensterscheiben runter, Anlage auf Anschlag. Natürlich läuft Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys. Sie kriegen nie genug. Von dieser Band, von dieser Musik. Von Italien.
Ein Fleckchen heile Welt
Diese neue Italo-Welle, die das Land nördlich der Alpen erfasst hat, ist mindestens bemerkenswert. Nicht, dass sich die Deutschen in der Zwischenzeit von Italien abgewendet hätten. Italien war immer da, immer unter den beliebtesten Urlaubszielen, aber irgendwie war Italiens Ruf angejahrt. Es war der Ruf des alten Sehnsuchtslands, in den Fünfzigern und Sechzigern war Italien eine Verheißung, ein Fleckchen heile Welt am Meer, so kurz nach dem Krieg. Italien für die Seele, Italien für die Ohren, Conny Froboess sang „Zwei kleine Italiener“, etliche Interpreten versuchten sich an den „Capri-Fischern“. Italien, Land der Träumer. Und wer träumt, entkommt der Wirklichkeit. Italien war eine warmherzige Offerte des Eskapismus.
Und im Grunde geht es auch heute, da die Liebe der Jungen zu Italien neue Blüten treibt, wieder um Eskapismus, die Zeiten sind kompliziert. Dolce Vita für alle – eine schöne Utopie. Wie sehr sie floriert, zeigt sich exemplarisch in der Unterhaltungsindustrie. Im Fernsehen laufen Formate wie die Campingdoku „Bella Italia“, RTL 2 reagiert auf die guten Quoten mit einer vierten Staffel, die gerade angelaufen ist.
Vor allem aber in der Musik geht die Italophilie der Deutschen um, mit Bands wie Il Civetto oder Tropikel Ltd. Die Crucchi Gang ist als Projekt des Musikers Francesco Wilking (Die höchste Eisenbahn) erfolgreich mit der Übersetzung deutscher Lieder von Tocotronic oder Clueso ins Italienische, meist gemeinsam mit den Künstlern eingespielt. Aus Joachim Witts „Goldener Reiter“ wird bei der Crucchi Gang der „Cavaliere d‘argento“. Erobique hat mit seinem Song „Urlaub in Italien“ von 2018 einen Hit gelandet, der Österreicher Josh mit „Expresso & Tschianti“ (2021). Seeed-Frontmann Peter Fox hat für sein aktuelles Album „Love Songs“ (2023) mit dem großen Adriano Celentano ein Lied aufgenommen – es heißt „Toskana Fanboys“.
Die Pioniere der neuen deutsch-italienischen Welle sind indes die Österreicher Wanda. Die Indie-Rock-Band hat Italien zwar nicht alleine, aber doch federführend wieder auf die popkulturelle Karte im deutschsprachigen Raum gebracht. Von der war das Land nach der Ära des Italo-Pop und der Italo-Disco der Achtzigerjahre weitgehend verschwunden. 2014 veröffentlichten Wanda ihr Debütalbum „Amore“, darauf der prägende Hit „Bologna“ – das war der Stein im Wasser, der konzentrisch seine Kreise zog. Aktuell wird Wanda von Sebastian „Zebo“ Adam produziert, der auch für den erfolgreichen Austro-Export Bilderbuch als Produzent zuständig ist – und für Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys.
Gerade hat die Band einige Festivalshows absolviert, das Southside, das Hurricane. Im Herbst gehen die Musiker auf „Kult“-Tour, spielen dann in München ihr bislang größtes Einzelkonzert – in der Olympiahalle, die den absoluten Topacts vorbehalten ist. Wie ist diese italienische Renaissance nur zu erklären?
Das habe vielerlei Gründe, sagt Songwriter Zanti und hebt vor allem einen hervor: die Corona-Pandemie. Fernreisen, die in den vergangenen zehn, 20 Jahren zur Selbstverständlichkeit geworden waren, waren plötzlich und für eine Weile nicht mehr möglich. „Ich glaube, viele haben sich darauf besonnen, einfach mal wieder ins Auto zu steigen und über den Brenner nach Italien zu fahren. Und das passt auch zum gesellschaftlichen Geist. Man versucht, wieder umweltbewusster zu reisen. Man nimmt vielleicht auch mal wieder den Zug – was wir auch gerne immer empfehlen als Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys.“ Italien sei, anders als Deutschland, ja ein fantastisches Bahnland.
Der Horizont der Kreativität ist weit an der italienischen Riviera
Einen Song über den Frecciarossa, den italienischen ICE, haben sie übrigens noch nicht im Werkverzeichnis. Dafür Lieder wie „Sophia Loren“ vom neuen Album, eine Ode auf die große Diva des italienischen Films, „Giro“ ist eine metaphorische Liaison des ikonischen Radrennens und der leidenschaftlichen Liebe, „Vino Rosso“ handelt von einem heißen Rotweindate in Jesolo, „Velocità“ von einer rasanten Spritztour auf der Vespa, natürlich zu zweit, Amore ist immer. Die Ideen gehen ihnen so schnell nicht aus. Der Horizont der Kreativität ist weit an der italienischen Riviera. Von Deutschland aus betrachtet ist er schier unendlich.
Wie finden die Italiener das überhaupt? Sie hörten eigentlich immer sehr viel Gutes von den Menschen, sagt Roy Bianco. „Die sagen dann: ‚Das ist kurios, das ist lustig, ihr nehmt euch nicht ernst‘, solche Dinge. Sie verstehen es vielleicht auch nicht so ganz, aber ich würde sagen, dass die Italiener immer ein offenes Herz für das Kuriose, das Mutige und das Außergewöhnliche haben. Natürlich gibt es auch Personen aus Italien, die sagen: ‚Damit kann ich gar nichts anfangen. Was wollen diese Deutschen?‘ Aber das passiert tatsächlich eher selten.“
Rein in den Schlagerstrudel
Was diese Deutschen in Meran wollen, die Hunderte, ist eigentlich schnell erklärt: Sie wollen Spaß haben, den Augenblick auskosten. Wollen den bei „Bella Napoli“ obligaten Schlagerstrudel – den milchgesichtigen Bruder des von Punk- und Metal-Konzerten bekannten Circle Pit – niemals wieder verlassen. Wollen nichts wissen von einem Italien, das von einer Postfaschistin regiert wird, das mit den Verheerungen der Klimafolgen zu kämpfen hat und das die Migrationskrise quasi täglich zu spüren bekommt, wenn Flüchtlingsboote in italienischen Gewässern aufgegriffen werden. Zumindest wollen sie das in diesem Moment nicht wissen, in diesen zwei Stunden seelischen Italienurlaubs, die allermeisten hier haben wohl eine genaue Vorstellung davon, was Verklärung ist und was Realität.
„Kunst – und das zu verstehen traue ich einfach jedem und jeder zu – ist ein Produkt, das die Wirklichkeit nicht abbilden muss“, sagt Roy Bianco. Widersprechen kann man dem nicht.
Italien ist nicht so. Italien war nie so und wird nie so sein. Und doch existiert dieses Italien. Es ist das Italien der Deutschen, eine Erfindung, so authentisch wie Salamipizza aus der Tiefkühltruhe, wie Miracoli, wie Spaghettieis. Die Deutschen, sie lieben dieses Italien aufrichtig. Und Liebe ist doch schließlich alles. Tutto Amore.