Birlikte-KulturfestGemeinsames Feiern gegen Vorurteile
Lesezeit 8 Minuten
Köln – Es ist ein ganz normaler Mittwoch, als die Welt des Özcan Yildirim in Stücke fliegt. Erholt hat sich der Friseur davon bis heute nicht. Still und schmal hockt er weit hinten im Salon „Kuaför Özcan“ auf einer Bank aus schwarzem Leder. Weiße Wände, heller Boden. Neben ihm ein Schwarz-Weiß-Gemälde mit einem tanzenden Derwisch. Draußen vor dem Laden, auf dem schmalen Bürgersteig, eine aufstellbare Preistafel. Eine „Bartrasur Model“ kostet zehn, eine „Bartrasur Vollbart“ acht Euro. Öffnungszeiten: neun bis 19 Uhr.
Rund 40 000 Euro hat es Yildirim gekostet, seinen Laden wieder aufzubauen, nachdem am 9. Juni 2004 um 15.55 Uhr vor seinem Geschäft in der Keupstraße in Köln-Mülheim eine Nagelbombe der rechtsradikalen Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) explodierte. 22 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, darunter auch Yildirims Bruder Hasan. Fensterscheiben barsten, im Reisebüro schräg gegenüber regnete es Putz und Splitter. Ayfer, die Tochter des Inhabers, wurde gegen die Rückwand geschleudert.
In einer Ecke von Yildirims Schaufenster weist eine kleine Tafel auf das Attentat hin: „Gegen Hass und Gewalt“, steht darauf. „Siddete Ve Nefrete Hayir. Im Gedenken des Anschlags mit einer Nagelbombe vom 9. 6. 2004“.
Özcan Yildirim, 45 Jahre alt und seit seinem zehnten Lebensjahr Friseur, braucht diese Tafel nicht. „So einen Tag vergisst man sein Leben lang nicht“, sagt er. Das, was danach kam, erst recht nicht.
Sieben Jahre stehen die Bewohner der türkischen Geschäftsstraße unter Generalverdacht, nicht ganz unschuldig zu sein an dem blutigen Vorfall, der das rheinische „Klein-Istanbul“ bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Yildirim und seine Frau werden mehrmals verhört. Die Polizei vermutet einen Racheakt von Schutzgeld-Erpressern oder der Mafia. Auch über eine blutige Auseinandersetzung zwischen türkischen und kurdischen Geschäftsleuten wird offen spekuliert. „Anfangs wollte ich nur noch weg“, sagt Yildirim auf Türkisch. Er traut seinen Deutschkenntnissen nicht, ein Kollege dolmetscht für ihn. „Aber dann bin ich geblieben. Ich wollte nicht so einfach abhauen.“ Erst Ende 2011 bestätigt sich, was Yildirim und seine Nachbarn von Anfang an vermuteten: Der Anschlag in Köln-Mülheim, der weit mehr zerstörte als die Geschäftsräume des „Kuaför Özcan“, war die Tat von Rechtsradikalen.
Die Idee
Nur noch drei Wochen bis zum Fest. Konzertveranstalter Roland Balou Temme, den sie in der Branche Lou nennen, reißt eine Dose „Coke Zero“ auf. Es ist nicht seine erste an diesem Freitagmorgen. „Ich wünschte, der Tag hätte 72 Stunden“, sagt er. „Oder drei Tage würden nebeneinander existieren, und man könnte von einem zum anderen springen.“ Wir sitzen im vierten Stock eines gewaltigen Bürokomplexes in Köln-Mülheim. Schwarzer Konferenztisch, große Panoramafenster, ein Ausblick bis zum Kölner Dom. Um die Ecke die Keupstraße.
Schanzenstraße
Uns zu Füßen eine Brache: das Freigelände Schanzenstraße. Gras, Erde, ein Bagger, der sich mühsam vorwärts arbeitet. Hier wird Pfingstmontag, zehn Jahre nach dem Nagelbombenanschlag, eine Großkundgebung des „Aktionsbündnisses Birlikte“ gegen Rassismus und rechte Gewalt stattfinden: zigtausende Menschen, Ansprache des Bundespräsidenten, Auftritte von Udo Lindenberg, Peter Maffay und Wolfgang Niedeckens BAP. Als Auftakt um 15.55 Uhr, dem Zeitpunkt der Explosion, eine gemeinsame Schweigeminute. Temme seufzt. Er organisiert die Mammutveranstaltung gegen Rechts. „Was macht man nicht alles fürs Karma-Konto“, sagt er mit einem selbstironischen Lächeln.
Am 9. Juni 2004 explodierte vor einem Friseursalon in der Keupstraße im rechtsrheinischen Köln Mülheim eine Bombe. Sie war mit 800 Zimmermannsnägeln und fünf Kilo Schwarzpulver gefüllt und hatte die Sprengkraft von 1,5 Kilogramm des Militär-Sprengstoffs TNT. Bei dem Anschlag erlitten 22 Menschen zum Teil schwere Verletzungen. Der Friseursalon wurde vollständig zerstört. Die Polizei vermutete zunächst einen Anschlag der Drogenmafia oder eine Auseinandersetzung zwischen Kurden und Türken.
Verantwortlich für den Anschlag war nach jetzigen Erkenntnissen die „Zwickauer Zelle“ der rechtsextremen Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Ihr werden acht Morde an türkischstämmigen und einem griechischstämmigen Kleinunternehmer zwischen 2000 und 2006 zugeordnet. Die beiden mutmaßlichen Täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt kamen am 4. November 2011 zu Tode.
Die mehr als sechsstündige Kundgebung unweit der Keupstraße, ist der Abschluss eines gigantischen deutsch-türkischen Solidaritätsfestes, mit dem an diesem Pfingstwochenende der Opfer rechten Terrors gedacht werden soll. „Birlikte – Zusammenstehen“ verdankt sein Zustandekommen einer ungewöhnlichen Allianz aus lokalem und überregionalem Engagement. Zu dem Aktionsbündnis gehören außer Temme und seiner Konzertveranstaltungs-GmbH unter anderem der Musiker Mario Rispo, die Stadt und das Schauspiel Köln, die „Stern“-Initiative „Mut gegen rechte Gewalt“, die Interessengemeinschaft Keupstraße und die Kölner AG Arsch Huh, die auch die Schlusskundgebung am Montag veranstaltet.
Gemeinsam haben sie innerhalb von fünf Monaten ein Kunst- und Kulturprogramm mit rund 150 Veranstaltungen auf die Beine gestellt, das ganz Köln, wenn nicht gleich ganz Deutschland wachrütteln soll. „Wir wollen ja alle nicht in der national befreiten Zone leben“, sagt Temme. „Also müssen wir alle zusammen ein Zeichen gegen Rechts setzen.“
Der erste Anstoß zu dem Fest am Jahrestag des Anschlags kam von dem Hamburger Musiker Mario Rispo. Der Sohn einer Deutschen und eines Halbitalieners singt klassische türkische Lieder und zieht seit Jahren mit Programmen wie „Mein Istanbul – Lieder der Sehnsucht“ und „Yodayiz – Auf dem Weg“ durch die Konzertsäle. Der Türkei und ihren Menschen fühlt er sich seit seiner Kindheit im „Osdorfer Born“ verbunden, einer riesigen Plattenbausiedlung im Westen Hamburgs mit einem hohem Ausländeranteil und dem Spitznamen „der Affenfelsen“.
„Ich wollte mit meiner Band ein Konzert für alle Menschen geben, die am NSU-Prozess beteiligt sind“, erzählt er bei einem Kurzbesuch in Köln. „Die Opfer, die Nebenkläger, die Rechtsanwälte, die Berichterstatter, die Richter. Höchstens 600 Leute. Alle einmal zusammen außerhalb des Gerichtssaals. Ein bisschen was essen, ein bisschen was trinken. Gemeinsam Musik hören.“
Er habe nach den NSU-Anschlägen eine große Angst unter den Deutsch-Türken gespürt: „Die fühlten sich plötzlich nicht mehr sicher in Deutschland. Viele meiner Freunde wollten in die Türkei gehen, obwohl sie hier geboren sind.“ Dem habe er etwas Völkerverbindendes wie seine Konzerte entgegensetzen wollen. Die noch vage Idee stieß beim Hamburger „Stern“, der zwei Jahre zuvor ein Porträt über Rispo veröffentlicht hatte, auf freundliches Interesse – und entwickelte sich innerhalb weniger Wochen zu einem Mega-Event mit Teilnehmern aus ganz Deutschland.
Das Fest
„Es ist eine unglaubliche Allianz, die hier entstanden ist“, sagt Thomas Laue, Dramaturg am Schauspiel Köln. „Jeder schmeißt an Ressourcen rein, was er hat.“ Zusammen mit Günter Wienecke von der Stadt Köln und Meral Sahin, der Vorsitzenden der IG Keupstraße, sitzt er an einem Tisch im Hof des Carlswerks: graue Wände, grauer Boden. In großen Kübeln blühen Frühlingsblumen. Die Luft duftet nach Vorsommer.
Im vergangenen Jahr ist das Schauspiel Köln auf das Gelände des ehemaligen Kabelherstellers „Felten & Guilleaume Carlswerk“ in unmittelbarer Nähe der Keupstraße gezogen, eine provisorische Unterkunft, solange das Stammhaus am Offenbachplatz in der Innenstadt saniert wird. Inzwischen hat man sich bestens eingerichtet in Köln-Mülheim. „Unsere Zeit hier ist begrenzt“, sagt Laue. Das klingt ein wenig bedauernd. „Wir müssen uns also beeilen, wenn wir unsere Nachbarn kennenlernen wollen.“ Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Stapel Programmhefte. Lesungen in Schaufenstern, Läden und Hinterhöfen der Keupstraße. Diskussionen über rechte Gewalt, Theater, Tanz. Auftritte von Kasalla, Brings und Eko Fresh – die Vorbereitungen für den Pfingstsonntag laufen auf Hochtouren. „Täglich kommt etwas dazu. Es ist einfach der Wahnsinn, was für eine Energie hier freigesetzt wird.“ Laues Augen leuchten.
Schauspielhaus und Polizei
Selbst das Landespolizeiorchester NRW ist mit von der Partie und wird gemeinsam mit dem türkischen Nationalorchester ein deutsch-türkisches Programm spielen. Der Vorschlag stammt von Mehmet Karapinar von der Polizeiinspektion 5 am Clevischen Ring, der seit zwei Jahren Patrouille geht in der Keupstraße. Dem schwebte gleich „etwas ganz Großes“ vor, als er hörte, dass auch die Polizei etwas zum Kulturfest beisteuern sollte. „Bloß nicht dieser übliche Polizeiwagen für Kinder. Wir können auch anders. Als mein Vorgesetzter anfing zu strahlen, wusste ich, dass ich mit meiner Idee richtig liege“, erzählt er.
Ursprünglich habe das Schauspiel am 9. Juni gemeinsam mit Betroffenen des Nagelbombenattentats lediglich ein Theaterstück aufführen wollen, sagt Laue: „Die Lücke“, sechs Darsteller, 250 Zuschauer. Thema: der Anschlag und seine Folgen. Die Vorbereitungen liefen seit Monaten. „Ich bin fast jeden Tag durch die Keupstraße gegangen, um die Menschen hier besser kennenzulernen und mit ihnen zu reden.“ Inzwischen ist die Premiere des Stücks auf den Pfingstsamstag vorgezogen und stellt den Auftakt zu „Birlikte“ dar.
„Als wir mitbekamen, dass Arsch Huh eine Riesenkundgebung plant, hatten wir erst einmal das Gefühl, es fällt ein Tanker vom Himmel“, erinnert sich Laue. „Sie selber planen etwas für 250 Leute, und dann kommt einer an und sagt: Wir machen aber was für 75 000. Erst dachten wir: Okay, das ist eine Superidee. Doch dann haben wir uns gefragt, wo wir eigentlich bleiben. Mülheim hat schließlich auch etwas zu bieten. Auf einmal kam ein großes Wir-Gefühl auf, und plötzlich wollte jeder mitmachen.“