Auch in Corona-ZeitenWieso ein 94-Jähriger im Joggen sein Glück findet
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Er hebt die Füße bei jedem Schritt nur ganz leicht, sein Oberkörper beugt sich gegen die Anstrengung nach vorne. Mit einem Taschentuch in der rechten Hand wischt er seine Nase ab, es könnte für Alfred Meyer nichts Schöneres geben. Seine minimal geöffneten Augen kämpfen gegen das frühe Licht der Sonne, ansonsten regt sich in seinem Gesicht fast nichts. Alfred Meyer ist 94 Jahre alt. Er hat noch 14 Kilometer vor sich.
Es ist noch kühl an diesem Aprilmorgen in einem Wald in der Nähe von Stuttgart. Ein Großteil des Waldes liegt noch im Schatten, die Sonne schickt nur vereinzelt ihre Strahlen durch das dichte Astwerk der Bäume. Zu den modernen Laufschuhen trägt Meyer einen blau-roten Jogginganzug, seine grauen Haare hat er akkurat nach hinten gekämmt. Die kleinen Steine des Weges knirschen unter jedem seiner Schritte. Er geht mehr, als er joggt, aber das spielt eigentlich keine Rolle.
„Das gibt mir sehr viel. Ich werde wohl langsamer, aber die Freud' lässt nicht nach", erzählt er nach seinem Lauf. Dreimal die Woche läuft er. Dienstags, donnerstags und samstags. Jede Woche. Immer mindestens 15 Kilometer. Fast drei Stunden. „Laufen ist für mich wie für Andere die Medizin, die sie vom Arzt verschrieben bekommen", sagt er. Sein Sohn, der Orthopäde Peter Meyer, sagt: „Es wäre für ihn eine Katastrophe, wenn er nicht mehr laufen könnte."
Es gibt in Zeiten der Coronavirus-Pandemie viele Sorgen, die man sich um ältere Menschen machen kann. Ein Großteil der in Deutschland an Covid-19 Gestorbenen war laut Robert Koch-Institut (RKI) 70 Jahre oder älter. Pflegeheime wurden abgeriegelt, um die Menschen dort vor einer möglichen Ansteckung durch ihre Angehörigen zu schützen. Ab einem Alter von 50 bis 60 Jahren steigt laut RKI stetig das Risiko für einen schwerwiegenden Verlauf der Krankheit.
Alfred Meyer läuft auch in diesen Zeiten weiter. Er geht auch weiterhin einkaufen; er bügelt, räumt seine Wohnung auf, kocht, erstellt Fotobücher an seinem Computer oder putzt. Seit dem Tod seiner Frau im Jahr 2015 lebt er allein. Neulich hatte er eine ganz außergewöhnliche Idee, wie sein Sohn erzählt. Die Farbe in seinem Esszimmer gefiel Meyer nicht mehr. Es strich die Wände kurzerhand in Kanariengelb. Nur an der Decke scheiterte er. Als er sich mit dem Pinsel strecken wollte, fuhr es ihm ins Kreuz. Da musste kurzfristig eine Enkelin aushelfen.
„Es gibt viele Leute, die würden noch mit dem Auto aufs WC fahren"
Auf seiner Strecke durch den Wald grüßen ihn die wenigen Menschen, denen er hier begegnet. Er hebt meist kurz die Hand, dann versinkt er wieder in seinem Lauf. Die Arme schwingen zu jeder Bewegung leicht mit, den Blick richtet er gerade nach vorn. Er lässt sich keine Anstrengung anmerken. „Es gibt viele Leute, die würden noch mit dem Auto aufs WC fahren, wenn sie es könnten", sagt Alfred Meyer. Er sieht es nicht als Problem, dass er sich durch seine Selbstständigkeit in Corona-Zeiten einem Ansteckungsrisiko aussetzt, sondern dass die Bevölkerung sich in seinen Augen zu wenig bewegt.
„Gerade bei älteren Menschen nehmen Muskelmasse und Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems so schnell ab, dass man das nicht mehr auffangen kann", sagt Axel Klein, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention. „Wenn er alleine läuft, wenn er das regelmäßig tut, wenn er auf seinen Körper hört, sollte er das unbedingt beibehalten."
Aufwachen um halb sechs
Alfred Meyer kann nicht ohne Bewegung. Mit 36 Jahren hörte er auf, Fußball zu spielen. Als Angestellter des Autobauers Daimler rief er anschließend zusammen mit einem Kollegen einen Lauftreff ins Leben. Es gab drei verschiedene Gruppen. Die ganz Schnellen, die in Stuttgart die Berge hoch und runter rannten. Die etwas Moderateren, bei denen auch Alfred Meyer mitlief. Und die Langsamen. „Die haben unterwegs noch die Fische im Teich am Bahnhof gefüttert", erzählt er. Meyer war irgendwann so fit, dass er 1987, im Alter von 62 Jahren, in München seinen ersten Marathon lief.
Jeden Morgen um halb sechs wacht er jetzt ohne Wecker auf, „ich habe die innere Uhr", sagt Meyer. Höchstens zwei, drei Minuten hält er es dann noch im Bett aus, ehe die Ungeduld ihn hinaustreibt. Wenn er laufen geht, isst er noch vor dem Waschen eine Banane und trinkt ein Glas Sprudel. Kurz vor dem Start macht er Liegestütze und Bauchmuskelübungen an einer Holzbank auf dem Waldparkplatz. Nach dem Lauf isst er einen Schokoladenriegel mit 70 Prozent Kakaoanteil.
Das Lachen kehrt in sein Gesicht zurück, als die Strecke geschafft ist: „Bei schönstem Frühlingswetter konnten wir 17 Kilometer unter die Hufe nehmen, eine wahre Wonne." Leichter Schweiß steht auf seiner Stirn, die Haare sind ein klein wenig durcheinandergeraten. „Auf was ich mich am meisten freue, wenn ich nach Hause komme, ist die Dusche", sagt er. „Dann werde ich wieder Mensch." (dpa)