Alexander Spassov ist kritisch mit seinem eigenen Fach. Der Kieferorthopäde schrieb in der Fachzeitschrift „Ethik in der Medizin“: Die bloße Existenz von Kiefer- oder Zahnfehlstellungen sei keine legitime Begründung für eine kieferorthopädische Therapie, „da deren Konsequenzen für die orale Gesundheit unklarer beziehungsweise eher spekulativer Natur sind“.
Ein Satz mit Sprengkraft. Denn fast die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen wird in Deutschland mit Zahnspangen behandelt – und meist wird dies mit Vorteilen für die Mundgesundheit begründet. Dafür gebe es aber wissenschaftlich keine Belege, sagt Spassov, bis September 2014 Mitarbeiter in der Poliklinik für Kieferorthopädie der Universitätsmedizin Greifswald. Seine befristete Stelle wurde nicht verlängert. Er und einige seiner Kollegen vermuten, dass der Fachartikel der Grund dafür war.
Denn Kritik an den Methoden der deutschen Kieferorthopädie wird nicht gerne gesehen. Spassov ist nicht der Erste, der sich auf die internationale Forschung beruft. Auch andere mahnen: In Deutschland werden zu viele Kinder behandelt, zu lange, zu früh und zu teuer. Henning Madsen, Kieferorthopäde aus Ludwigshafen, schrieb schon 2008 darüber einen Fachaufsatz mit dem Titel „Evidenzbasierte Medizin in der Kieferorthopädie“. Das Fazit: Es gibt keine verlässlichen Belege, dass Zahnfehlstellungen Karies oder Parodontitis begünstigen, und es gibt keine verlässlichen Belege, dass eine Zahnbegradigung Karies oder Parodontitis verhindert. Möglicherweise verschlechtern Zahnspangen die Mundgesundheit sogar.
Fehlstellung gilt als Krankheit
Standesvertreter und manche Hochschulprofessoren kontern meist nicht mit anderslautenden Studien, sondern mit Fallbeispielen, die wegen der geringen Menge der untersuchten Patienten fehleranfällig sind. Oder sie argumentieren allein mit persönlicher Erfahrung, die ebenfalls fehleranfällig ist. So warben im April hochrangige Kieferorthopäden auf einem Kongress in Bonn offensiv für das Argument der Mundgesundheit und für frühe Behandlungen – ohne Erwähnung der internationalen Forschung. Für Henning Madsen ein Weg „ins wissenschaftliche Niemandsland“. Kieferorthopäden müssten sich immer auf Mundgesundheit beziehen, sagt dagegen Bärbel Kahl-Nieke, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.
Lesen Sie im Folgenden, warum Alexander Spassov für seine Aussagen heftigen Gegenwind bekommen hat.
Seit 1972 gelten Kiefer- oder Zahnstellungs-Anomalien als Krankheit, auch wenn keine Beschwerden vorliegen. Solch ein Krankheitsbegriff sei nicht mehr haltbar, sagt Jens Türp, Zahnmediziner an der Universität Basel und Sprecher des Fachbereichs Zahnmedizin im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Kaum ein Mensch habe von Natur aus das in der Kieferorthopädie angestrebte ideale Gebiss. Der Vorgang in Greifswald werfe zudem Fragen auf. Spassov sei einer der wenigen deutschen Zahnmediziner, der eingefahrene Vorgehensweisen hinterfrage. Dass dies „nicht immer auf Gegenliebe“ stoße, so Türp, wisse er aus eigener Erfahrung.
Bestrafung wegen freier Meinungsäußerung kein Einzelfall
Spassov bekam mächtig Gegenwind: Ursula Hirschfelder, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO), kritisierte den Artikel. Gegenüber „Spiegel online“ sagte sie, sie halte dessen Feststellung, dass Kiefer- und Zahnfehlstellungen keine Krankheit darstellten und deshalb keine Behandlung erforderten, für „äußerst problematisch“. Das widerspreche der „international herrschenden Einschätzung“. Spassovs Klinikdirektor erließ nach der Veröffentlichung „aufgrund aktueller Vorkommnisse“ die Dienstanweisung, Publikationen vor dem Einreichen vorzulegen. Als die Landesregierung daraufhin um eine Stellungnahme bat, nahm der Direktor die Anweisung zurück.
Die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre ist in Deutschland ein Grundrecht. Dass trotzdem an Hochschulen jemand wegen einer freien Meinungsäußerung bestraft werde, komme „immer wieder vor“, sagt Peter Sawicki, Arzt, Dozent an der Uni Köln und ehemaliger Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. „Als Ketzer verurteilt zu werden, gehört eigentlich ins Mittelalter.“ Nicht nur die Kieferorthopädie, sondern die ganze Medizin scheue die Untersuchung, was wirklich nützlich und notwendig sei. „Denn das ist mit Einkommensverlusten verbunden.“
Lesen Sie im Folgenden, warum die Vorsitzende des Berufsverbandes der Deutschen Kieferorthopäden (BDK) nun einen Disput anbietet.
Kritik an Spassov
Im Fall Spassov sei vermutlich ein Effekt der Abschreckung gewollt. „Eigentlich aber müsste man beim wissenschaftlichen Nachwuchs dringend den Eindruck vermeiden, freies Denken behindere die Karriere. Verbesserungen funktionieren nur mit einer Kritik am Bestehenden.“ Auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ bietet nun die Vorsitzende des Berufsverbandes der Deutschen Kieferorthopäden (BDK), Gundi Mindermann, Spassov und Madsen einen „wissenschaftlichen Disput“ an über die Details und die „tatsächliche Relevanz“ der Studienergebnisse, etwa auf der Jahrestagung der DGKFO im November in Mannheim. In der Publikumspresse sei „in den letzten Monaten sehr viel verallgemeinert worden“, was „zu Verunsicherung in der Öffentlichkeit geführt“ habe, sagt Mindermann.
Das klingt nach neuer Sachlichkeit. Ende 2013 hatten Berufsverband und Fachgesellschaft Madsen vorgeworfen, die „Rolle des Kritikers“ sei „mindestens indirekt kostenlose Werbung“ für seine Praxis. Und über Spassov sagte Mindermann im Juni in einem Interview vieldeutig, man dürfe „gespannt sein, wie seine Einstellung zur Kieferorthopädie in sein Praxiskonzept integriert“ werde.Alexander Spassov, von der Forschung derzeit ausgeschlossen, sieht sich dagegen gezwungen, eine Praxis zu eröffnen – allerdings unter dem Leitspruch „Weniger ist mehr“.