98-jährige Zeitzeugin in KölnSie kam von einem Unrechtsstaat in den nächsten
Lesezeit 2 Minuten
Köln – „Sie sind ein Mensch, der uns viel gegeben hat“, sagte Bürgermeister Andreas Wolter, als er am Mittwoch in Vertretung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker die Journalistin und Schriftstellerin Ruth Weiss im Historischen Rathaus empfing.
Die 98-Jährige, die bei ihrem Sohn in Dänemark lebt, sei eine „selbständige und selbstbewusste Frau mit unabhängigem Geist, die ihr Leben mit Mut und Tatkraft in die eigenen Hände genommen“ habe und eine „klare Haltung gegenüber Rassismus, Apartheid und Antisemitismus“ zeige – mit der Gabe, ihre Gedanken zum Ausdruck zu bringen, ob in Artikeln, Sachbüchern, Romanen oder im Gespräch.
Familie emigrierte 1936 nach Südafrika
Am Vorabend hatte Ruth Weiss in der Bibliotheca Germania Judaica, der Kölner Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentums, aus ihrer Autobiografie „Wege im harten Gras“ und anderen Büchern gelesen und Fragen aus dem Publikum beantwortet.
1925 als Ruth Loewenthal in Fürth geboren, emigrierte sie 1936 mit ihrer jüdischen Familie nach Südafrika, einem Land, in dem strikte Rassentrennung herrschte: die Apartheid. Sie arbeitete in einem Rechtsanwaltsbüro, in der Buchhandlung Ihres ersten Mannes, bei einer Versicherungsgesellschaft und in London in einem Verlag.
Jobs in Köln, London und Simbabwe
Später, als Journalistin, war sie in afrikanischen Ländern tätig, von 1975 bis 1978 in Köln, wo sie Chefin vom Dienst der Afrika-Redaktion der Deutschen Welle war, wiederum in London und dann in Simbabwe. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählt das Romanzyklus „Die Löws. Eine jüdische Familiensaga in Deutschland“.
Seit vielen Jahren liest sie immer wieder an Schulen, um Kindern und Jugendlichen ihre Erfahrungen weiterzugeben. Im Austausch mit Bürgermeister Wolter, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der Antisemitismusbeauftragten des Landes NRW, und weiteren Gästen sprach sie im Rathaus unter anderem über ihre Emigration, durch die sie „von einer Unrechtsgesellschaft in eine andere gekommen“ sei.
„Wahnsinniger Schock“
Von den weiteren Vorgängen in Nazi-Deutschland, der systematischen Verfolgung und Ermordung der Juden, hätten sie fern im Süden Afrikas erst nach dem Krieg erfahren. „Es war ein wahnsinniger Schock.“ Wolter erläuterte das Besuchsprogramm der Stadt Köln für ehemalige jüdische Bürger. Viele „beeindruckende Begegnungen“ habe er miterlebt.
Mit Blick auf den weltweiten Anstieg der Flüchtlingszahlen kritisierte Ruth Weiss wie schon am Vorabend in der Bibliothek die Vorstellung von einer „Festung Europa“. „Man muss die Türen öffnen, sonst gibt es menschliche Tragödien.“ Statt sich zu verschließen gelte es, „den Tatsachen ins Auge zu sehen“ und zu akzeptieren, „dass man teilen und die ärmeren Menschen unterstützen muss“ - mit dem Gedanken: „Vielleicht bin ich auch mal dran.“