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Awaren, Kelten und MongolenDie wilden Stämme von Köln

Lesezeit 7 Minuten
Eine Homage an die Vielfalt des Fastelovends: „Chinese“, „Piraten“, „Mongolen“ und „Indianer“ im Video der Paveier zum Lied „Humba“

Eine Homage an die Vielfalt des Fastelovends: „Chinese“, „Piraten“, „Mongolen“ und „Indianer“ im Video des Paveier-Hits „Humba“

Am Karnevalswochenende ziehen auch die Kölner Stämme durch die Straßen. Dem besonderen Phänomen rheinischer Tradition widmet sich nun ein neues Buch.

An diesem Wochenende sind sie wieder auf der Straße: Alte Germanen und Barbaren, Hunnen, Chinesen und Indianer, „Vrings-Asiaten“, Römer, Buschräuber und Piraten ziehen durch die Stadtteile. Die „Poller Böschräuber“, die „1. Kölner Mongolenhorde“ und die „Original 1. Kölner Piraten von 1968“ werden wieder die Vorhut des Rosenmontagszugs bilden.

Ein besonders ausgeprägtes Stammesleben scheint es in Bickendorf zu geben. Da ziehen am Sonntag „Kölsche Kelten“, die „Beckendorfer Awaren“ und die „Bickendorfer Mongolen“ mit im Veedelszoch. Früher gabs hier auch noch „Tataren“ und „Minschefresser“. Das großartige Fotobuch „Kölner Stämme“ aus dem Jahr 1991 bescheinigte den Bickendorfern „verhaltenen Kannibalismus“.

Begriffe wie „kulturelle Aneignung“ waren damals fremd.

Mit viel Spaß, Freude und Sympathie hatten damals die Fotografen Petra Hartmann und Stephan Schmitz die „Kölner Stämme“ porträtiert, Kölner Journalisten Texte dazu geschrieben und der legendäre Gründer der Photokina, Leo Fritz Gruber, im Vorwort über den „heimlichen, meist unerfüllten Traum des Betrachters, einmal aus der eigenen Haut zu schlüpfen, jemand anderes zu sein und als solcher anerkannt zu werden“ philosophiert. Begriffe wie „kulturelle Aneignung“ und postkoloniale Debatten waren damals nicht nur den Fans der Stammeskulturen fremd. „Bei der Konfrontation mit Ethnologen, Abenteurern und Fernreisenden, die Erfahrungen in der Begegnung mit den Papua-Völkern aus Neuguinea sammeln konnten, gäbe es kein Erstaunen“, schwärmt ein Autor zum Beispiel über die „pottschwarzen“ und prachtvoll verkleideten „Minschefresser“. In Bickendorf herrsche „Südseeklima“. Man trug noch Mützen aus echtem Fell auf dem Kopf.

„Eine unpolitische, leicht anarchistische Szene“

Das prachtvolle Fotobuch ist voller Texte, die man heute nicht mehr so schreiben würde. Blackfacing und das „N-Wort“ – das wird alles 1991 noch nicht als Problem empfunden. Die Begeisterung und Faszination für das Hobby, sich als ein historisches oder ausgedachtes, fremdes Völkchen zu organisieren, mit ihm die Freizeit zu verbringen und Feste zu feiern, war in den 80er und 90er Jahren riesig. Heute scheint das alles sehr weit weg. Im Umland halten sich die Stammesgemeinschaften noch besser als in der Stadt. In Kerpen stellen die dort siedelnden Hunnen in dieser Session sogar das Dreigestirn. In Köln haben sich viele der Vereine, die in den 90er Jahren nach der Absage des Rosenmontagszuges den alternativen Golfkriegskarneval mitprägten und große gemeinsame Feste feierten, zwischenzeitlich aufgelöst. Kannibalen und Wikinger haben ihre Internetseiten abgeschaltet, die meisten Hunnenhorden sind regelrecht ausgestorben.

Ein paar der stolzen Stämme gibt es in Köln noch

Das mag auch damit zu tun haben, dass heute mehr darüber reflektiert wird, warum kulturelle Aneignung, also die Übernahme einzelner Merkmale anderer Kulturen, möglicherweise als problematisch empfunden werden kann. In aktuellen Debatten hat der in der Wissenschaft eigentlich neutrale Begriff eine politische und moralische Dimension bekommen. Da wird der prächtige Federschmuck auf dem Kopf zum Ausdruck für einen unreflektierten Umgang mit dem Kolonialismus und der Ausbeutung von unterdrückten und benachteiligten Völkern. Und trotzdem: Ein paar der stolzen Stämme und bunten Völker gibt es auch in Köln noch. Sie trotzen dem Mitgliederschwund und irgendwie auch der „Political Correctness“.

Ein Bild aus vergangenen Zeiten: 2003 feierte die 1. Kölner Hunnenhorde im Volksgarten ihren 25. Geburtstag

Ein Bild aus vergangenen Zeiten: 2003 feierte die 1. Kölner Hunnenhorde im Volksgarten ihren 25. Geburtstag

Haben wir es da mit rückwärtsgewandten Unverbesserlichen zu tun? „Nein“, sagt die Wissenschaftlerin Anja Dreschke. „Die Szene ist unpolitisch, ein bisschen anarchistisch.“ Die Vereine stünden für einen „ganz besonderen Teil rheinischer Tradition“. Die Filmemacherin, Ethnologin und Medienwissenschaftlerin hat sich intensiv mit den „Kölner Stämmen“ beschäftigt. 35 Jahre nach dem zitierten und damals hochgelobten Fotobuch widmet sich ein neues, noch viel dickeres Werk dem Phänomen.

Dreschke schreibt über Horden und Clans, „Kostüme und Gedöns“

Dreschke schreibt über Horden und Clans, „Kostüme und Gedöns“, Schamanen und erfundene Rituale, heitere Rollenspiele und durchaus ernsthaftes Interesse an fremder Kultur. Sie spricht von „Amateurwissenschaftlern“ und einer „alternativen Form der Wissensproduktion“. Nicht wenige, die in den Vereinen mitmachen, gehen ihrem Hobby mit großer Ernsthaftigkeit nach. Sie würden ihr Engagement „nicht als Spiel, sondern als Lebensstil“ verstehen, schreibt die Wissenschaftlerin.

Mitglieder der Kölner Mongolenhorde in einer ihrer Jurten in Heimersdorf

Mitglieder der Kölner Mongolenhorde in einer ihrer Jurten in Heimersdorf

Ganz so fern, wie man denkt, liegt die Freude an der sehr zeitaufwendigen Freizeitbeschäftigung nicht mehr, wenn man an all die vielen neuen Formen von Fankultur, Cosplay und anderen Rollenspielen oder die Methoden von „Living History“ oder experimenteller Geschichtsforschung denkt, so Dreschke. „Im Grunde waren die Stämme da Vorreiter.“ Würden der „Clan der Nordmänner“ oder die „Kölner Wikinger“ noch durch Köln jagen, könnten sie nun vom Hype um „Vikings“, „Valahalla“ und anderen TV-Streaming-Serien profitieren.

„Kölner Stämme“ stehen für die Vielfalt

Früher wie heute staunen nicht wenige über erwachsene Menschen, die sich in Germanen- und Indianerstämmen organisieren. Die große Faszination für Hunnen und Mongolen war und ist vielen ein noch größeres Rätsel. In Köln ist das Reitervolk nie gewesen, die Legende der Heiligen Ursula dichtet ihm tausendfachen Massenmord an frommen Jungfrauen an. Warum will man Hunnen und Mongolen imitieren? Vielleicht war das Reizvolle gerade das Wilde und Unangepasste einer Furcht einflößenden Truppe, die gegen alle Konventionen und Regeln des christlichen Abendlandes antrat. Im Karneval haben sich die Stämme stets auch als Alternative zum feinen, geordneten Gesellschaftskarneval verstanden. Gegen die Uniformierten der Karnevalsgesellschaften im Festkomitee ziehen trinkfeste Barbaren und fremde Völker als wilde Horden in ganz individuellen Verkleidungen durch die Straßen. Die „Kölner Stämme“ stehen für die Vielfalt des Festes, sagt Anja Dreschke.

„Ein Alkoholverbot ist nicht akzeptabel“

Peter Berg von den „Poller Böschräuber“ formuliert es so: „Wir sind frei denkende Leute, die sich nicht reglementieren lassen. Mit dem offiziellen Karneval haben wir nix am Hut.“ Als der heutige Festkomitee-Präsident Christoph Kuckelkorn noch Zugleiter war, habe man sich ein bisschen angenähert. „Er fand es gut, dass wir vor dem Rosenmontagszug gehen. Das gewünschte Alkoholverbot war jedoch für uns nicht akzeptabel.“ Der amtierende „Dschingis Khan“ der „1. Kölner Mongolenhorde“, Michael Donovan, sieht die Stämme in der selben Tradition wie den links-alternativen Karneval. „Das ist das gleiche wie die Stunksitzung.“

„Was die Vereine machen, ist viel komplexer als viele glauben.“

Natürlich sind die Veränderungen der vergangenen Jahre nicht ohne Folgen geblieben. Für das aufwendige Hobby lassen sich immer weniger gewinnen, die Vereine werden immer älter. Mancher sitze lieber am Stammtisch in der warmen Kneipe als draußen im kalten Zelt, sagt Peter Berg. Doch auch die Debatten um Sprache, mutmaßlich korrekte Bezeichnungen, „kulturelle Aneignung“ oder den Umgang mit dem kolonialen Erbe lassen die Stämme wie ein Relikt aus alten Zeiten wirken, auch wenn die verbliebenen Vereine damit recht selbstbewusst umgehen. Dreschke sagt, dass die Gruppen selbst solche Themen kritisch diskutieren. Außenstehende dürften diese Themen nicht einseitig angehen und nur als Probleme sehen. Auch ihre ethnologischen Beobachtungen und Feldforschungen, auf denen ihr Dokumentarfilm

„Die Stämme von Köln“ und nun das neue Buch basieren, liegen schon rund 15 Jahre zurück. Manches sehe sie heute etwas kritischer als damals bei ihren Besuchen in den Stammeslagern. Das ändere aber nichts daran, dass sie alle Kritiker gerne mal zu den Festen der Stämme einladen würde. „Was die Vereine machen, ist viel komplexer als viele glauben.“

Das Archivbild zeigt die Kölner Piraten, wie sie den Klabautermann als „Nubbel“ über ihr Stammlokal hängen

Das Archivbild zeigt die Kölner Piraten, wie sie den Klabautermann als „Nubbel“ über ihr Stammlokal hängen

Die Akteure spüren, dass mancher am Zugweg ihr Rollenspiel kritisch beäugt. Mancher wird sich fragen: Darf man das noch? Passt das noch in die Zeit? Sich als Chinese, Hunne oder Afrikaner verkleiden? „Wir sind nicht der Mainstream“, sagt Peter Berg trotzig. Der Mainstream sei den „Poller Böschräuber“ egal. Er kennt die Kritik, die „fast ausschließlich von jungen Menschen“ komme. „Anfangs habe ich versucht, weit ausholend zu erklären, was wir machen und was wir sind.“ Das habe ihn ermüdet. Heute diskutiere er nicht mehr.

„Das Barbarische der Anfangsjahre ist weg“

Die Stimmung am Zugweg ist nicht mehr die gleiche, sagt auch der amtierende „Dschingis Khan“ der Mongolenhorde. „Früher haben uns die Menschen gefeiert wie jeck.“ Auf Kritik reagiert er mit dem Hinweis auf die vielen Besuche aus der Botschaft der Mongolei oder von mongolischen Kulturvereinen, die man regelmäßig im großen Jurten-Lager in Heimersdorf begrüßt. „Unsere Gäste bedanken sich für die Weiterführung der Kultur des Landes“. Die Mongolen treffen sich das ganze Jahr über auf einer großen Wiese gleich neben der Westernstadt „Deadwood“ des noch jungen Vereins „Outlaws Revival“, wo Cowboys und Indianer friedlich zusammenleben.

Die Gesetzlosen und die Mongolen aus Heimersdorf haben zusammen mit der „Bonner Hunnenhorde“, den „Ihrefelder Chinesen“ und den „Original 1. Kölner Piraten“ in der Karnevalssession 2022/23 den Paveiern dabei geholfen, zu ihrem Karnevalshit „Humba“ ein tolles Video zu machen. Es ist eine lustige, ausgelassene Hommage auf die Vielfalt des Straßenkarnevals geworden.

In Heimersdorf scheinen die Bedingungen für die Stämme noch günstiger als anderenorts. Die „Outlaws“ vermelden stabile Mitgliederzahlen, die Mongolen können sich sogar über einige junge, neue Mitglieder freuen. Doch auch hier gibt es Veränderungen: „Das Barbarische und Wilde der Anfangszeit ist weg“, sagt „Dschingis Khan“ Donovan. „Alles hätt sing Zick.“