Der Digitalisierung zum Trotz boomen öffentliche Bücherschränke.
Nirgendwo in NRW gibt es so viele davon wie in Köln. Jeder Schrank erzählt etwas über sein Veedel.
Köln – Es ist eigentlich ein Anachronismus. Der Ikea-Katalog hatte ihn ja längst angestimmt, den Abgesang auf das Bücherregal. Aufgeräumte Wohnungen ohne Bücherwände prägen im Katalog 2019 erstmals das Ambiente. Die Zeiten der Bücherwand als Statussymbol und Präsentationsfläche des eigenen Bildungsniveaus scheinen beendet. Digitales Lesen verdrängt das Papier.
Gleichzeitig schießen als Gegenbewegung öffentliche Bücherschränke wie Pilze aus dem Boden: Als Boxen, als begehbare Schränke, als ausrangierte Telefonzellen. Und zwar nirgendwo in NRW so zahlreich wie in Köln. Hier liegt die Landeshauptstadt der Bücherschränke mit 25 Exemplaren. Von Bocklemünd bis Mülheim, Ostheim und Poll: Jeder Schrank erzählt etwas über das Veedel, in dem er steht und seine Menschen.
Jeder Schrank hat eine eigene, sich stetig wandelnde Bücheridentität. „Deshalb macht es ja auch so viel Spaß, an verschiedenen Orten nach kleinen Schmuckstücken zu suchen“, erklärt Bücherblogger Tobias Zeisig den Charme . Er selbst hat die App „Buchschrankfinder“ entwickelt sowie eine Karte aller öffentlichen Bücherschränke im deutschsprachigen Raum. Verbunden mit GPS kann man damit über das Smartphone Bücherschränke in der Nähe finden.
3500 Bücherschränke in Deutschland
Deutschlandweit sind es inzwischen 3500 Bücherschränke. Jeden Monat kommen neue hinzu. Zur Feier von zehn Jahren Kultur der offenen Bücherschränke in Köln gibt es an diesem Wochenende sogar einen Tag des offenen Bücherschranks rund um den Bayenturm im Rheinauhafen. Ziel ist es, für das Potenzial der Schränke als Kultur- und Begegnungsgut zu sensibilisieren.
In der Körnerstraße in Ehrenfeld steht auch einer. Wer sich die ungläubige Frage stellt, ob Bücherschränke überhaupt genutzt werden, der sollte einmal ein paar Minuten stehen bleiben. Im Fünf-Minuten-Takt steuern Passanten in der kleinen Straße den Bücherschrank an, der eine jeden Tag andere Mischung des Zufalls bietet: Tolkiens „Herr der Ringe“ komplett im Schuber, Nietzsches „Menschliches, Allzumenschliches“, T.C. Boyles „América“, Jostein Garders „Kartenhaus“ und etwas für Krimifans von Minette Walters sind es heute. Dazu der Bertelsmann Autoatlas von 2004 und Langenscheidts Wörterbuch Englisch.
Stefan Udelhofen vom Institut für Medienkultur und Theater der Uni Köln hat mit seinen Studierenden über einen längeren Zeitraum die Bücherschränke Kölns untersucht und festgestellt, dass sie alle sehr rege genutzt werden: 50 bis 70 Prozent der durchschnittlich 250 Bücher finden innerhalb einer Woche neue Leser. An sehr attraktiven Standorten sind es 90 Prozent. Wie hier in Ehrenfeld. „Vor dem Schrank ist immer was los“, erzählt Marko Rettig, Inhaber der „Drahtflechterei“: „Irgendjemand ist immer dran. Und es werden immer mehr.“ Der Schrank steht genau neben der Eingangstür zu seinem Geschäft und Rettig kümmert sich ehrenamtlich um den Schrank, sortiert Sachen aus, die gar nicht laufen: Konsalik, alte Reiseführer oder Meyers Taschenlexikon in 20 Bänden. Das ist laut der Untersuchung der Uni Köln die Voraussetzung dafür, dass ein Bücherschrank wirklich funktioniert.
Beliebtes Instagram-Motiv
Gerade posiert eine junge Frau mit dem Handy vor dem Schrank. Denn Bücherschränke - speziell dieser – sind auch auf Instagram hip. „Seit einem Monat steht da zehn Mal am Tag jemand mit seinem Handy davor. Irgendein Promi hat das losgetreten.“ Abgesehen von solchen Hypes gebe es viele Stammnutzer, die teils mehrmals täglich hier vorbeischlendern: Bücherschrank-Freaks. Es sind Menschen wie Harald Neitzel. Der 67-jährige macht regelmäßig seine Bücherschrank-Runden – vor allem in Sülz und auf dem Rathenauplatz: „Das ist wie eine Wundertüte. Man weiß nie was diesmal drin ist.“ Es ist diese Spannung, vielleicht eine ganz besondere Entdeckung zu machen, die den Reiz ausmacht. Etwas zu finden, nach dem man noch nie gesucht hat. Verbunden mit dem Schnäppchen-Gefühl, das dieser Akt der Selbstbeschenkung zum Nulltarif auslöst.
Heute deutet am Rathenauplatz nichts auf einen Glückstag hin für den Rentner Neitzel, der vor allem naturwissenschaftliche, philosophische und historische Bücher sucht. Anders als in dem Ehrenfelder Schrank dominiert leichte Kost: Utta Danella, Rosamunde Pilchers „Heimkehr“ und Konsalik. Aber in der hinteren Reihe angelt sich Neitzel den Fang des Tages: Roger Penrose – „A complete Guide to the Laws of the universe“. „Das ist ein echter Glücksgriff. Mein Tag ist gerettet.“ Der 67-jährige Vielleser bezieht Grundsicherung. Für ihn ist der Schrank eine Möglichkeit, ohne Geld aus der überschaubaren Bibliothek des Zufalls intellektuelle Anregungen nach Hause zu tragen. Und auch selber Bücher hierher zubringen. Heute sind es ein paar Bände von Mark Twain. „Meine Wohnung ist klein. Da passt mir das mit dem Geben und Nehmen prima.“ Zudem sind Begegnungen am Bücherschrank auch Optionen auf einen Schwatz. „Ich beobachte gerne“, meint er grinsend. „Wer spricht einen an? Wer drängt einen weg? Wer interessiert sich für was?“
Gerade durchforstet der tschechische Germanist Roman Kopriva den Schrank. Der wissenschaftliche Mitarbeiter an der Uni Köln wirkt leicht beschämt, als man ihn anspricht. Aber dann kommt er ins Schwärmen, was er in Bücherschränken nicht schon für Schätzchen gefunden hat. Sogar Heimito von Doderer oder Joseph Roth. „Es ist eine nette Einrichtung. Wie ein öffentlicher Lesesaal, der die Stadt bewohnbarer und liebenswerter macht.“
Bücher sammeln statt Pfandflaschen
Es ist eine Einrichtung, die irgendwie in die Zeit passt, findet Zeisig, den der Boom der Bücherschränke nicht wundert. Sie reizen die Sammelleidenschaft. Zudem kann man Bücher loswerden, ohne dass sie auf dem Müll landen. Einfach im Vorbeigehen und anonym wird man Teil der Sharing-Communitiy. Es verbindet gegenwärtige Tendenzen zur Nachhaltigkeit mit der Wertschätzung für Bücher als zu bewahrende nicht vorschnell wegzuwerfende Güter. Zudem liegt Retro im Trend: Egal ob Vinyl oder Papiernotizbücher.
Manchmal bekomme er auch selbst Leseanregungen aus dem Schrank, sagt Rettig. Daneben ermöglichten Bücherschränke eine Sozialstudie. Es gebe Sammler und solche, die sich sonst den Bücherkauf nicht leisten könnten, Papierretter- und Papierfetischisten. Und es gebe solche, die mit Taschen ankommen, um die Bücher bei Momox – der Online-Plattform für gebrauchte Bücher – weiter zu verkaufen und sich so die Rente oder das Studentenbudget aufzubessern. „Die schauen teilweise vor dem Bücherschrank mit dem Handy nach, welchen Preis das ein oder andere Buch bei Momox erzielt“, sagt Rettig – Bücher sammeln statt Pfandflaschen. „Kein Problem. Am Ende ist doch nur wichtig, dass sich das Nehmen und Geben ausgleicht. Die, die Geld haben, bringen die Bücher. Die, die wenig haben, nehmen sie sich mit. Am Ende ist der Bücherschrank eine soziale Geschichte, die das Veedel dörflich macht.“