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Körperspende an der Uni KölnSie spendeten das Intimste, das sie hatten: 90 Tote, die die Lebenden lehren

Lesezeit 8 Minuten
Auf dem Seziertisch in der Anatomie landet, wer seinen Körper zu Lebzeiten der Wissenschaft vermacht hat. (Symbolbild)

Auf dem Seziertisch in der Anatomie landet, wer seinen Körper zu Lebzeiten der Wissenschaft vermacht hat. (Symbolbild)

Körperspenden gelten als unersetzlich für Forschung und Lehre. So funktioniert das Vermächtnis an die Wissenschaft an der Uniklinik Köln.

Die Kirche ist vollbesetzt bis auf den letzten Platz, hinter den Bänken stehen die Menschen in Reihen, manche recken die Köpfe, andere halten den Blick gesenkt. Was es hier zu erleben gibt, das ist ohnehin nur mit geschlossenen Augen sichtbar. Ein ganzes Leben in der Erinnerung, Millionen von Augenblicken: Ein besonders schönes Lachen, die erste Begegnung, der letzte Urlaub, der beste Ratschlag. Anna Luna Rave schleudert die Anwesenden in eine Vergangenheit, als ihre verstorbenen Angehörigen noch am Leben waren.

Aber es ist keine normale Trauerfeier, die die junge Frau hier in der Klinikkirche St. Johannes der Täufer mitgestaltet. Denn Anna Luna Rave (21) ist Studentin der Humanmedizin an der Universität zu Köln. Die toten Körper der Menschen, um die hier geweint wird, haben sie und ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen mit dem Skalpell aufgeschnitten. Zweites Semester, Anatomie, Präparationskurs. Sie haben ihnen ihre Organe entnommen, sie haben Schicht für Schicht die Muskeln und Knochen von Haut und Fettgewebe getrennt, sie haben Schilddrüsen betrachtet, Gefäße vermessen, das Gehirn angefasst. Sie haben an den Toten gelernt, um den Lebenden in ihrem künftigen Beruf helfen zu können.

Etwa 100 Menschen aus der Region entscheiden sich jedes Jahr dafür, ihren Körper der Universität Köln zu spenden. Sie wollen posthum der Wissenschaft dienen, mit ihrem Leichnam für chirurgische Fortbildungen zur Verfügung stehen oder zentraler Teil der Präparationskurse für Medizinstudenten sein. Vor allem für die Lernenden ist die Arbeit an Leichen ein unersetzlicher Baustein ihrer Ausbildung – um später Diagnosen stellen und lebensrettende Operationen durchführen zu können. Die Toten lehren die Lebenden. In der Gedenkfeier ist deshalb ein Begriff zentral: Dankbarkeit.

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Die Arbeit am menschlichen Körper ist durch den an einem Demopräparat nicht zu ersetzen
Professor Martin Scaal, Direktor des Zentrums für Anatomie der Uniklinik Köln

Fast ein halbes Jahr lang haben sich Anna Luna Rave und ihre Kommilitonen jeweils acht Stunden in der Woche gruppenweise mit je einem Körper beschäftigt. Sie haben jeden Muskel, jeden Nerv, jedes Organ kennengelernt und mit tausenden anatomischen Fachbegriffen in Verbindung bringen können. „Die Arbeit am menschlichen Körper ist durch das Lernen an einem fertigen Demopräparat nicht zu ersetzen“, sagt Professor Martin Scaal, Direktor des Zentrums für Anatomie der Uniklinik Köln. „Die Studierenden lernen am besten durch das eigene Tun.“ So beschreibt das auch Anna Luna Rave: „In einer App ist es zwar möglich, Ebenen und Gewebe wegzuklicken, aber die Struktur mit einem Skalpell selbst darzustellen, ist natürlich etwas anderes und schafft ein tiefgreifendes Verständnis für Lage- und Größenverhältnisse. Auch das Spüren von Gewebstypen verstärkt den Lerneffekt. Wie fühlt sich zum Beispiel das Gewebe einer Lunge im Vergleich zum Herzen an?“

Studentin der Humanmedizin Uniklinik Köln

Anna Luna Rave ist Studentin der Humanmedizin. Ihr hat die Arbeit an den Körperspendern beim Lernen enorm geholfen: „Teilweise habe ich die Augen zugemacht und habe versucht mich zu erinnern, wo der Nerv genau lag, als ich die Schulter präparierte.“

Während der semesterabschließenden Prüfung hätten ihr die absolvierten Stunden im Anatomiesaal enorm geholfen. „Teilweise habe ich die Augen zugemacht und habe versucht mich zu erinnern, wo der Nerv genau lag, als ich die Schulter präparierte.“ Dazu komme die Erkenntnis, dass reale Körper – wo ein Buch Idealisierung und Normierung suggeriert – durchaus gänzlich verschieden und gerade im Alter auch mal unperfekt sind. „Bei 80 Prozent der Menschen mag die Arterie nach Lehrbuch verlaufen, bei dem Körper, den man selbst seziert, verläuft sie dann aber eben anders. Wir sind eben alles Individuen“, sagt Rave.

Es kann für die Angehörigen auch etwas Tröstliches haben, der Medizin etwas zurückgeben zu können
Caroline Schnabel, Klinik-Pfarrerin

Für die Angehörigen hingegen kann die Entscheidung zur Körperspende „eine Zumutung“ sein, wie Klinikseelsorgerin Caroline Schnabel das ausdrückt. Die Vorstellung, dass der Körper des Menschen, den sie geliebt und mit dem sie gelebt haben, im Anatomiesaal per Skalpell in seine Einzelteile zerschnitten wird, sei möglicherweise befremdlich, für manche belastend oder „unheimlich“. Auch eine Trauerfeier und damit die Gelegenheit, sich zu verabschieden, verschiebe sich durch den Akt der Körperspende um etwa ein bis zwei Jahre. Schließlich benötigten die Konservierung der Gewebe und die Studien entsprechende Zeit. Alles natürlich im Dienste der Wissenschaft. Aber wann denkt so ein leidenschaftlich trauerndes Herz schon an den Forschungsstand?

Vielleicht in einem zweiten Schritt, sagt Schnabel. Denn: „Es kann für die Angehörigen auch etwas Tröstliches haben, der Medizin etwas zurückgeben zu können. Vielleicht gerade dann, wenn der geliebte Verstorbene von der Kenntnis der Ärzte auch lange Zeit profitiert hat.“ Die jährliche Trauerfeier an der Uniklinik Köln biete dann sowohl für die Angehörigen als auch die Studierenden einen würdigen Abschluss, „einen Raum, um den widerstreitenden Gefühlen Ausdruck zu verleihen“, so Schnabel.

Portrait Caroline Schnabel Seelsorge

Klinikseelsorgerin Caroline Schnabel sagt: „Es kann für die Angehörigen auch etwas Tröstliches haben, der Medizin etwas zurückgeben zu können. Vielleicht gerade dann, wenn der geliebte Verstorbene von der Kenntnis der Ärzte auch lange Zeit profitiert hat.“

Eine Frau wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln, in vielen Jacken wird an diesem kühlen und bedeckten Nachmittag in der Klinikkirche nach Taschentüchern gekramt. Zu Klavierklängen singt man „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ und „Hero“ von Mariah Carey. Studierende schreiten mit 90 Kerzen den Gang zum Altar ab, während 90 Namen verlesen werden. 90 Menschen, 90 „einzigartige Charaktere“, wie eine Studentin es beschreibt: „90 Väter, Mütter, Freunde, Tanten, Onkel, Partner, die auch in uns weiterleben, weil sie uns gelehrt haben, den Körper zu begreifen.“

Früher deckte man den Bedarf durch Hingerichtete oder kaufte bei Leichendieben

Dankbarkeit gegen Vertrauen heißt der Handel. Denn ohne Verlässlichkeit läuft die Körperspende Gefahr, sich in eine Geschichte direkt aus dem Gruselkabinett zu verwandeln. Früher versuchte man die wachsende Zahl an benötigten Anschauungsobjekten durch hingerichtete Kriminelle zu decken und bat bei Knappheit durchaus Leichendiebe um Hilfe, die als „Resurrection Men“ Leichen auf den Friedhöfen ausbuddelten und an medizinische Einrichtungen verkauften.

Zu Zeiten der NS-Gewaltherrschaft profitierten die deutschen Institute von einer rassenbasierten Leichenbeschaffung – auf den Seziertischen landeten Insassen von Konzentrationslagern oder Zwangsarbeiter – oft auch Menschen, die für die Forschung gezielt umgebracht wurden.

Martin Scaal

Professor Martin Scaal von der Uniklinik sagt: „Zu Beginn legen wir die Körper bewusst auf den Rücken, damit die Studierenden ihnen ins Gesicht schauen müssen. Diese Konfrontation ist wichtig, um klar zu machen: Das ist nicht irgendein Präparat. Das ist ein echter Mensch.“

In den USA soll eine einzelne Leiche zweifelhaften Unternehmen auch heute noch bis zu 250.000 Dollar einbringen können. In Deutschland gebe es derlei Fälle des Leichenteilhandels seines Wissens nicht mehr, sagt Martin Scaal. Man achte im Gegenteil auf hohe ethische Standards. An der Uniklinik Köln beschäftige man eine Person, die sich speziell um die Beratung und Betreuung potenzieller Körperspender und um die Angehörigen der Körperspender kümmere. Rechtlich regelt die Spende eine letztwillige Verfügung zu Lebzeiten. Aus gutem Grund würden Körperspenden nicht bezahlt, „im Gegenteil, die Körperspender werden an den Kosten beteiligt und müssen mit Kosten von etwa 1100 Euro rechnen“, so Scaal.

Für mich war es auch eine Frage von Respekt, diese Körperspende dann auch zu nutzen und gewissenhaft daran zu arbeiten
Anna Luna Rave, Studentin der Humanmedizin

Die Begräbniskosten übernimmt final die Universität. Und auch dafür, dass in jeder Urne dann auch wirklich der Verstorbene als Individuum enthalten sei, trage die Universität die Verantwortung. Zu einer besonderen Sorgfalt habe Scaal zu Folge der Skandal in der Anatomie geführt, der vor gut 13 Jahren aufgedeckt wurde und wobei Unregelmäßigkeiten bei der Lagerung und Bestattung von Körperspendern aufgefallen waren. Man habe ein neues Lagersystem etabliert, mehr Geld in die Hand genommen.

Heute werde darauf geachtet, auch kleinste Teile von Fett- und Bindegewebe in Gefäßen am Leichnam aufzubewahren und entnommene Organe oder Körperteile penibel zu beschriften. „Am Ende des Kurses legen unsere Studierenden ihre Körperspender mit allen Teilen in jeweils einen Sarg.“ Das Einsargen sei ein wichtiger Abschluss für die Studierenden, die nach einem anstrengenden Semester mit hohem Lernvolumen auch Abschied von den Körpern nehmen müssten. Bald entstünde an der Uniklinik zudem ein kompletter Neubau mit einem verbesserten Kühl- und Belüftungssystem, der es ermögliche, auch im Sommersemester zu präparieren. 

Am Ende erfordert die Arbeit im Anatomiesaal eine gewisse Gelenkigkeit im Geiste. Denn es ist durchaus ein Spagat, der da von jedem Einzelnen verlangt wird. Einerseits dürfe nicht vergessen werden, dass da kein bloßes Material auf den Tischen liege, sagt Scaal. „Zu Beginn legen wir die Körper bewusst auf den Rücken, damit die Studierenden ihnen ins Gesicht schauen müssen. Diese Konfrontation ist wichtig, um klar zu machen: Das ist nicht irgendein Präparat. Das ist ein echter Mensch.“

Andererseits gehe es im Kurs nicht in erster Linie um Ethik, sondern um das Lernen. Und das zweimal in der Woche, vier anstrengende Stunden am Stück. „Für mich war es auch eine Frage von Respekt, diese Körperspende dann auch zu nutzen und gewissenhaft daran zu arbeiten, sich neues Wissen anzueignen“, sagt Rave. Und auch Scaal betont die Wichtigkeit des sachlichen Blicks: „Bei aller Empathie. Ein Arzt kann nicht mit jedem mitsterben.“


So funktioniert die Körperspende in Köln

Ein Körperspender muss bereits zu Lebzeiten seinen Körper dem Zentrum Anatomie durch eine Letzwillige Verfügung vermacht haben. Ist alles handschriftlich ausgefüllt und unterschrieben, erhalten Spender einen Körperspendeausweis. Die Verfügung kann jederzeit und ohne Angabe von Gründen rückgängig gemacht werden.

In Frage kommen nur Personen, die ihren Wohnsitz im Einzugsgebiet der Uniklinik Köln haben. Auch der Tod darf nicht mehr als 100 Kilometer von Köln entfernt eintreten. Nicht angenommen werden können Körperspender mit hochinfektiösen Erkrankungen wie zum Beispiel HIV-Infektionen oder Virushepatitis. Auch erhebliche anatomische Veränderungen wie zum Beispiel Amputationen können zum Ausschluss führen.

Es ist möglich, sich sowohl als Körper- als auch als Organspender zu registrieren. Allerdings hat die Organspende vor der Körperspende Vorrang. Nur falls die Organspende nicht möglich ist, wird die Anatomie der Uniklinik Köln benachrichtigt.

Medizinische Studien am Körper dauern in der Regel zwölf bis 24 Monate, die Beisetzung kann erst im Anschluss erfolgen. Diese findet anonym auf einem Urnenfeld in oder um Köln statt. Angehörige werden auf Wunsch im Nachhinein über den Ort informiert. Außerdem findet eine jährliche Gedenkfeier statt.