Köln – Der blaue Aufkleber mit der Gasmaske prangt noch immer auf der Stahltür zu Raum 037. Er ist eines der letzten Überbleibsel aus der Zeit, als Eingeweihte den Keller des Instituts für Anatomie nur „das Gruselkabinett“ nannten. In ausgetrockneten Tauchbecken stapelten sich halb verweste Leichen – darunter zwei mit Kennzeichnungen aus den 1980er Jahren. Abgetrennte Arme und Köpfe schimmelten neben einem Zebrakadaver vor sich hin.
Ziemlich genau zwei Jahre ist es her, dass der Skandal an die Öffentlichkeit kam. Seitdem wurden fast zwei Millionen Euro in die Instandsetzung des 50 Jahre alten Anatomie-Gebäudes an der Joseph-Stelzmann-Straße investiert. „Wir konnten unbürokratisch renovieren und waren sehr schnell wieder arbeitsfähig“, sagt Institutsleiter Professor Martin Scaal. Die Missstände seien behoben worden, ein professionelles und würdiges Arbeiten ist jetzt wieder möglich.
Scaal steht in Raum 037 vor den runderneuerten Tauchbecken. Hier werden die Leichen all jener angeliefert, die entschieden haben, ihren Körper nach dem Tod der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. 60 Leichname liegen in den Keramikwannen, einbalsamiert mit dem Lösungsmittel Formaldehyd. Über jedem Becken hängt ein Zettel an der Wand. Darauf ist vermerkt, welcher Körper wann angeliefert wurde – streng anonymisiert. Auch die Medizinstudenten erfahren zu keinem Zeitpunkt, wie der Spender heißt, dessen Gewebe, Organe und Knochen sie präparieren. Stattdessen erhält jeder Körper eine Kennziffer, die von der Einlieferung bis zur Kremierung nach Ende des Semesters beibehalten wird.
Radikale Änderungen
Das war nicht immer so. Bis Anfang 2012 kam es vor, dass Überreste verschiedener Spender in ein und demselben Sarg entsorgt wurden und vor der Kremierung nicht mehr zugeordnet werden konnten. Und noch etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte, ist jetzt neu: „Nach dem Ende des Präparationskurses werden die Leichen zügig kremiert und bestattet“, versichert Martin Scaal.
Über seinem Kopf hängen drei mobile Kräne an einer Stahlschiene. Sie wurden angeschafft, weil die alten die schweren Stahldeckel auf den Becken nicht mehr anheben konnten. Als im Winter 2011 Mitarbeiter der Uni und der Feuerwehr Raum 037 offenbar als erste seit vielen Jahren wieder betraten, brauchten sie Taschenlampen, weil die Glühbirnen defekt waren. Der Erkundungstrupp trug Schutzanzüge und Atemmasken. „Es stank bestialisch“, erinnert sich ein Mitglied des Teams.
Jetzt riecht es fast neutral, ein bisschen nach Chemie. Der gekachelte Boden ist blank geputzt. Eine Etage höher steht eine professionelle Hochdruckreinigungsmaschine; kaum zu glauben, aber auch die gab es vorher nicht.
Einige Wochen, bevor die schlimmen Zustände im Februar 2012 ans Licht kamen, hatte Martin Scaal sich erfolgreich für die ausgeschriebene Stelle als Institutsleiter in Köln beworben. Noch war er als Professor an der Uni in Freiburg beschäftigt. Die Enthüllungen an seiner künftigen Arbeitsstätte hätten ihn zwar „nicht begeistert“, sagt der 45-Jährige heute, „aber sie haben mich auch nicht abgeschreckt“. Im Gegenteil: „Ich war in der Lage, etwas gestalten und neu aufbauen zu können, das hatte durchaus seinen Reiz.“
Teures Kühlhaus
Der Biologe führt aus den Katakomben der Anatomie ein Stockwerk höher in den Kühlraum. Hier lagern die Leichen während des Präparationskurses im Wintersemester. Für mehrere hunderttausend Euro hat die Universität ein mannshohes Kühlhaus angeschafft, die Körper werden konstant bei minus vier Grad gehalten. Sie sind gestapelt in Metallregalen und einzeln verpackt in luftdicht verschlossenen Plastiksäcken. Früher standen hier veraltete, teils defekte Kühlwannen.
In einem Raum im Anatomischen Institut werden drei Leichen gefunden, deren Identitäten unklar sind.
Die Universität schaltet die Staatsanwaltschaft ein, weil es den Mitarbeitern der Anatomie nicht gelingt, die Identitäten der Toten zu klären.
Nach einem Medienbericht über etwa 80 Leichen, die sich im Keller der Anatomie angesammelt haben, lädt die Universität zu einer Pressekonferenz ein. Die Rede ist von einem „Bestattungsrückstau“, von chaotischer Buchführung und einem „unsachgemäßen Umgang mit Körperspendern“. Die Zustände seien nach einem Amtswechsel ans Licht gekommen. Professor Jürgen Koebke, der das Institut bis März 2011 geleitet hat, rückt in den Mittelpunkt des Skandals.
Jürgen Koebke (66) kehrt von einem Spaziergang nicht zurück und wird in der Nacht tot aufgefunden. Er hat sich das Leben genommen. In seiner Tasche steckt ein Brief, in dem er sich von seiner Frau und seinen vier Töchtern verabschiedet.
Uni-Rektor Axel Freimuth zeigt sich „zutiefst erschüttert und schockiert“ über den Freitod von Jürgen Koebke. „Wenn wir den Eindruck erweckt haben, dass er allein verantwortlich war, bedauern wir das sehr.“ Er verspricht lückenlose Aufklärung.
Axel Freimuth stellt den abschließenden Untersuchungsbericht vor und räumt ein, dass Fehler nicht mehr eindeutig zugeordnet werden können. Die unübersichtliche Situation in der Anatomie habe sich über mindestens zehn Jahre entwickelt. „Die Verantwortlichkeiten sind auf vielen Schultern verteilt.“ Er entschuldigt sich bei den Angehörigen der Körperspender: „Wir bedauern diese Missstände zutiefst.“ Die Identitäten von mindestens drei Toten bleiben bis zuletzt unklar.
Auch im Seziersaal für die Studenten hat sich einiges verändert, nicht baulich, aber organisatorisch. Um die Leichen jederzeit identifizieren zu können – auch wenn einzelne Körperteile für die Untersuchungen abgetrennt werden – hängen Metallplättchen an den kleinen Fingern, den Zehen und am Ohrläppchen. Die Studenten legen die entnommenen Körperteile in nummerierten Behältern ab: Organe in rote Kisten, das Gehirn in weiße kleine und Fett- und Bindegewebe in weiße große Kisten. Am Semesterende verschließen die jungen Mediziner alle Leichenteile in Holzsärgen. „Es geht eben nicht nur um das Zergliedern, sondern auch um das Zusammenfügen“, sagt Scaal.
An einer Tradition hält der Institutsleiter auch nach dem Skandal fest: Die Studenten gestalten eine Trauerfeier für die Körperspender, an der auch deren Angehörige teilnehmen. „Das geht unter die Haut“, sagt Scaal. Die Feier sei wichtig – „ damit die Studenten ihren Blick von der wissenschaftlichen Sichtweise wieder auf den Menschen zurücklenken.“