Ein junger Bundeswehrsoldat wird 1989 nachts in einer Kaserne in Ossendorf getötet. Sein Bruder rätselt bis heute über das Motiv.
Cold Cases KölnRätselhafter Mord in der Kaserne Butzweilerhof
Es ist Freitagabend, der 23. Juni 1989. Dichte Regenwolken hängen über Köln, schon den ganzen Tag fallen Schauer vom Himmel. In der Bundeswehrkaserne Butzweilerhof in Ossendorf sind die Flure und fast alle Räume verwaist, die 117 Soldaten der 2. Kompanie des Nachschub-Bataillons 205 sind übers Wochenende zu ihren Familien gefahren.
In der kleinen Wachstube im Erdgeschoss brennt noch Licht. Der junge Soldat Norbert Stolz hält heute die Stellung, er hat „Schließ- und Telefondienst.“ Es ist eine einsame Schicht. Bis zum nächsten Morgen um 8 Uhr darf Stolz den schmucklos eingerichteten Raum nur für die vorgesehenen Kontrollgänge verlassen.
Ein Bett und ein Tisch stehen in dem engen Zimmer, in der Ecke ein Fernseher. Die Tür muss immer verschlossen bleiben. Niemand – auch kein Soldat – darf die Stube betreten. Nur über ein kleines Schiebefenster hat Stolz Kontakt nach draußen.
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Ein Kamerad ist der letzte, der Norbert Stolz lebend sieht
In jener Nacht hält sich noch ein zweiter Soldat im Gebäude auf. Wegen einer Verfehlung steht der Mann unter Arrest, er darf die Kaserne nicht verlassen. Gegen 22 Uhr geht er an der Wachstube vorbei und bemerkt Stolz, der vor dem Fernseher sitzt. In der ARD läuft an diesem Abend „Gott und die Welt“, eine Dokumentation über die Rolle der Kirche in der französischen Revolution, auf RTL plus der Spielfilm „Schüler lieben hübsche Hasen“, auf Sat1 ein Western: „Der Marshal“.
An diesen alten Fällen arbeitet die Kölner Polizei
Der Gefreite ist allein in seiner Wachstube, er trägt seinen Kampfanzug, die Stiefel hat er unter dem Bett abgestellt. Die beiden Männer sprechen nicht miteinander, Stolz bemerkt den Kameraden womöglich nicht einmal. Was in den nächsten Stunden in seiner Wachstube geschieht, ist bis heute unklar.
Am nächsten Morgen um 6.20 Uhr findet ein Offizier die Leiche von Norbert Stolz. Der 20-Jährige ist brutal erstochen worden. Elf Stiche. Acht trafen ihn in die Brust. Der Täter ist bis heute unbekannt, genau wie das Motiv.
33 Jahre später, an einem Sommertag 2022, bricht Christoph Stolz, Norberts älterer Bruder, frühmorgens von seinem Wohnort bei Frankfurt auf und fährt nach Köln. Der 67-Jährige hat einen Termin bei der Mordkommission im Polizeipräsidium in Kalk, Walter-Pauli-Ring, Abteilung „Cold Cases“. Er möchte wissen, wie der Stand der Ermittlungen ist. Was es Neues gibt. Ob es überhaupt etwas Neues gibt.
Schließlich hatte ein Kripo-Ermittler schon im September 1989 resigniert verkündet: „Es gibt nichts mehr, was wir noch untersuchen könnten.“ Da war Norbert Stolz gerade drei Monate tot.
„Sie haben nichts“, sagt sein Bruder nach dem Termin im Präsidium. Er wirkt nicht wirklich überrascht, sichtlich enttäuscht ist er trotzdem. „Es ist so wenig da, was noch zu einer heißen Spur werden könnte“, sagt er.
Vielleicht, hofft Christoph Stolz, helfe eine Veröffentlichung in der Zeitung. „Vielleicht meldet sich jemand, der noch eine nützliche Information geben kann.“ Die Belohnung der Staatsanwaltschaft von 3000 Euro hat Stolz auf 10.000 Euro erhöht für den entscheidenden Hinweis, der zur Verurteilung des Täters führt.
In den Tagen nach dem Mord richtete die Kripo ein Ermittlungsbüro in der Kaserne ein. Spuren wurden gesichert und ausgewertet, das Leben des Opfers durchleuchtet und alle 117 Soldaten des Bataillons befragt – auch derjenige, der unter Arrest stand und sich in der Mordnacht alleine mit Norbert Stolz im Gebäude aufhielt. Als Verdächtiger schied er allerdings bald aus.
Für den zuständigen Staatsanwalt war die Sache schnell klar, nur drei Tage nach dem Mord ließ er sich in der Zeitung zitieren mit dem Satz: „Die Gründe für die Tat müssen im persönlichen Bereich liegen.“
Es ist eine Feststellung, die Christoph Stolz bis heute nachgeht, sagt er – weil sie durch nichts gedeckt sei. Damals nicht, und heute auch nicht. „Es gibt auch nach 33 Jahren keinen Ansatz für ein Motiv oder einen Täter. Wieso war der Staatsanwalt sich damals so sicher?“
Markus Weber leitet die Cold-Cases-Einheit bei der Kölner Polizei. An einem sonnigen Wintermorgen sitzt er in seinem Büro, im Hintergrund dudelt leise das Radio. Auch Weber kann sich das Zitat nicht erklären. Wer einen Grund gehabt haben könnte, den jungen Gefreiten zu töten, sei völlig unklar, betont er.
War es ein Kamerad aus dem Bataillon? „Die Kollegen der Mordkommission haben sich damals viel Arbeit gemacht und die ganze Kaserne auf links gedreht“, sagt Weber. Konkrete Hinweise auf einen Bundeswehrangehörigen als Täter ergaben sich nicht.
War es ein Einbrecher? Die Polizei fand bei der Spurensuche ein Loch im Zaun, der das Gelände umgab, außerdem stand eine Kellertür offen, die ins Gebäude führte. Allerdings: In der Kaserne fehlte nichts, ein Diebstahl oder Raub erscheint unwahrscheinlich.
Bruder des Mordopfers glaubt an eine Verwechslung
Also doch ein Täter aus dem persönlichen Umfeld? Eine Eifersuchtstat vielleicht? Ein Racheakt? Eine Abreibung, die aus dem Ruder gelaufen ist? Weber zweifelt. „Ein Täter aus dem privaten Umfeld hätte auch einfachere Möglichkeiten gehabt, sich Norbert Stolz zu nähern, als in eine Kaserne einzubrechen.“
Christoph Stolz glaubt an eine Verwechslung. Eine andere Erklärung habe er nicht. Norbert hatte am Abend seines Todes kurzfristig die Schicht eines Kollegen übernommen. Er wollte zusätzliche Urlaubstage sammeln, um im August in ein Ferienlager fahren zu können. „Es gab kein Motiv, meinen Bruder umzubringen“, sagt Christoph Stolz. „Er war ein umgänglicher, ruhiger, freundlicher Typ.“
Ein unproblematisches Kind, aufgewachsen mit zwei Brüdern in Köln-Raderthal in einer katholischen, bürgerlich-konservativen Familie. Strenges Elternhaus, regelmäßige Kirchgänger, der Vater Beamter bei der zivilen Standortverwaltung der Bundeswehr.
Norbert war als Messdiener und in der Jugendarbeit bei St. Mariä Empfängnis aktiv. Er spielte Handball beim 1. FC Köln. Nach seinem Wehrdienst wollte er in die Versicherungsbranche einsteigen. „Geordnete Bahnen“, so beschreibt es sein Bruder Christoph heute. „Alles heile Welt“ – bis zum 23. Juni 1989.
Die Kölner Mordkommission hat kürzlich die Kleidung des Soldaten noch einmal ins Labor gegeben. Möglicherweise lassen sich mit heutigen Methoden DNA-Spuren des Täters daran finden. Das könnte ein Durchbruch sein.
Aber Christoph Stolz hat noch einen weiteren Ansatz: einen Brief, der im Sommer 1989, nur wenige Tage nach dem Mord, bei seinen Eltern eingegangen war. Absenderin: eine gewisse „Annette“. Ihr Nachname und ihre Adresse sind nicht bekannt, weil der Briefumschlag heute nicht mehr aufzutreiben ist. Annette stellt sich den Eltern als Freundin von Norbert vor und drückt ihr „herzliches Beileid“ aus. Sie bat um ein Foto von ihm. Die Eltern schickten ihr eines. Weiteren Kontakt gab es nicht.
„Ich weiß nicht, ob mein Vater die Polizei damals über den Brief informiert hatte“, sagt Christoph Stolz. Seine Eltern sind vor Jahren gestorben. Der dritte Bruder habe den Brief vor etwa zehn Jahren der Polizei weitergeleitet. „Dieser Brief wäre für mich eine wichtige Spur gewesen. Wenn es eine Eifersuchtsszene gab oder etwas in der Art, dann wäre diese Annette vielleicht eine wichtige Zeugin.“ Auch die Polizei will sich den Brief nun noch einmal genauer ansehen.
Das Leben der Familie Stolz geriet durch den Mord komplett aus den Fugen. Auch ihn habe die Tat verändert, sagt Christoph Stolz. „Ein kleines Indiz ist, dass ich seitdem keine Krimis mehr schauen oder lesen kann.“ Verbrechen seien im Film oft Entertainment. „Aber für mich ist das keine Unterhaltung mehr.“
Dass der Mörder seines Bruders eines Tages gefasst wird, sei unwahrscheinlich, sagt Christoph Stolz. Wichtig wäre es ihm trotzdem. „Am meisten treibt mich die Frage nach dem Warum um. Ich verstehe nicht, warum ein Mensch wie mein Bruder so aus dem Leben gerissen wurde. Und ich will, dass der Täter nicht straflos davon kommt.“
Fast 200 Cold Cases liegen zurzeit bei der Kölner Polizei, Norbert ist nur einer davon. „Aber für mich“, sagt Christoph Stolz, „ist das der einzige Fall.“
An diesen alten Fällen arbeitet die Kölner Polizei
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ stellt ungelöste Kölner Mordfälle aus den vergangenen 33 Jahren vor. Die Folgen erscheinen samstags und donnerstags in der Zeitung. Online sind die ersten vier Folgen schon jetzt abrufbar unter ksta.de/coldcases. Weitere Folgen erscheinen in den kommenden Wochen.
Zeuginnen und Zeugen, die Angaben zur Tat, zum Täter oder zur Täterin machen können, werden gebeten, sich bei der Polizei Köln zu melden – entweder telefonisch unter 0221/229-0, per E-Mail an poststelle.koeln@polizei.nrw.de oder auf einer Polizeiwache.