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Streifzug durch eine verstörte StadtSo hat sich Köln seit der Coronakrise verändert

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Ein völlig neues Bild: Die leere Severinstraße.

  1. Jeden Tag steigt die Zahl der mit Corona Infizierten in Köln.
  2. Während so mancher versucht aus der Krise Gewinn zu machen, haben Clubs, Restaurants und Geschäfte ganz geschlossen oder verkaufen nur noch an der Tür.
  3. Hat sich Köln verändert? Rücken die Kölner – wenn auch nicht körperlich – enger zusammen? Unser Autor war an verschiedenen Orten in der Stadt und hat mit den Menschen gesprochen.

Köln – Sven Regener hätte bei der lit. Cologne an diesem Donnerstag in der Mülheimer Stadthalle vor ungefähr 1079 Menschen aus Franz Kafkas Roman „Das Schloss“ gelesen. Ein Landvermesser scheitert in dem Roman bei seinem Versuch, in ein Schloss zu kommen und mit den Dorfbewohnern zurechtzukommen. Regener, Sänger der Band „Element oft Crime“, hätte der Geschichte durch seine Reibeisenstimme einen komischen Unterton verpasst, die Besucher und Besucherinnen hätten gelacht und geklatscht und einmal mehr gewusst, dass niemand besser als Kafka die Absurdität des angeblich vernunftbegabten Homo sapiens beschreiben konnte, der doch ein armer Wurzelsepp bleibt, der mit seiner vermeintlichen Freiheit auf dieser Welt nichts anzufangen weiß.

Der Parkplatz vor der Mülheimer Stadthalle ist am Donnerstagmorgen gut voll, das Ordnungsamt verteilt Knöllchen. An den Scheiben der verwaisten Halle klebt Werbungvon Kasalla, die für den 13. Juni zum Stadion-Konzert bitten, und einer Frau Höpker, die für den 4. April zu einem Mitsingkonzert einlädt. Auf dem Wochenmarkt am Wiener Platz drängeln sich die Menschen wie eh und je, einige tragen Atemschutzmasken, andere haben sich einen Schal ums Gesicht gebunden.

Pferde-Metzger Ralf Barz, der das Fohlen-Geschnetzelte für zwölf Euro pro Kilo anbietet und mit dem Slogan „Pferdefleisch: Fleisch ohne Skandale“ wirbt, spürt die Corona-Krise nur abends, wenn er nicht in die Kneipe kann. „Fleischkonserven sind gerade der Renner“, sagt Barz, als ein Vollbartträger um eine Dose Pferdefleisch bittet. Ein Rentner findet den Ring Fleischwurst für 3,80 Euro zu teuer, „die am Stück ist billiger“, sagt Barz, wiegt gut 200 Gramm ab, und sinniert: „Ich kann verstehen, dass die Leute hamstern jetzt, gerade die Armen, die noch mehr Angst haben. Mit dem Klopapier, das verstehe ich nicht. Aber was für jeden schlimm ist, das ist diese Ungewissheit.“

Alles zum Thema Henriette Reker

SUVs machen nicht unbesiegbar

Ein alter Mann in zerrissenen Jeans irrt über den Markt, sieht den Block des Reporters und sagt: „Schlimm, so ein Markt ist doch ein riesiger Infektionsherd! Ich kaufe nur noch abgepackt. Haben Sie ein bisschen Kleingeld übrig?“ Die Armut glaubte der Mensch der westlichen Welt hinter sich gelassen zu haben. Die SUVs, die vor den Trutzburgen in Rodenkirchen, Marienburg und längst auch im früheren Arbeiterviertel am Beethovenpark und in der Keupstraße stehen, galten als Symbole der Unbesiegbarkeit: schnell wie der Wind, sicher wie ein Panzer, teuer wie ein Haus in der Eifel. In Tagen wie diesen zeigt sich, dass es mit der Unbesiegbarkeit nicht so weit her ist. Der Marienburger Mercedes-Fahrer hortet genauso viel Klopapier wie der Finkenberger Lkw-Fahrer, der Blick der Lehrerin aus Sülz ist so verletzlich wie jener der Minijobberin aus Buchforst.

Corona: Kölner Fallzahlen und aktuelle Entwicklungen im Überblick

Die Sorgen verschleiern die Blicke der Menschen, die mit ihren Einkaufstaschen durch die Stadt irren, weidwund sind sie fast alle, auch wenn der eine sich mit Geld den Hintern abputzen könnte und der andere nicht weiß, wie er die nächste Miete bezahlen soll.

Angst, hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard vor gut 170 Jahren festgestellt, führe zur Unfreiheit, wenn sie Macht über den Menschen erlange und ihn denk- und handlungsunfähig mache. Ein Discounter in der Severinstraße wirbt mit dem Spruch „Alles bleibt besser“. „Aldi ist für Euch da – gemeinsam statt allein“, prangt in Leuchtschrift hinter der Kasse. Hoffentlich bleibt nicht alles besser, aber mit der Gemeinsamkeit, das stimmt noch.

Milch wird in Köln abgezählt

Die Verkäuferinnen sind sehr freundlich, müssen aber darauf hinweisen, dass jeder nur zwei Liter Milch kaufen darf, auch Familien mit drei oder vier Kindern. Viele Regale sind leer, „wir wissen nicht, wann einige Waren kommen, die Lkw stehen ja an den Grenzen“, sagt die Kassiererin. Angst, meinte Kierkegaard, beinhalte auch die Möglichkeit einesfreien Lebens. Weil die Menschen, die sie durchdrungen hätten, das Endliche als Endliches sähen und akzeptierten: Wir haben nur dieses Leben, um richtig zu leben.

Die Angst kann demzufolge dem Wohlstandsmenschen, der nach Perfektion und Unsterblichkeit strebt, die Hybris nehmen, wenn er akzeptiert: irgendwann ist Schluss. Bis dahin geht es darum, kühlen Kopf zubewahren. Immer dann, wenn sich das Leben schnell wandelt, muss auch schnell gehandelt werden. Die Geschwindigkeit war in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung schon hoch – nun droht dem zur Trägheit neigenden Homo sapiens das Tempo zu überrollen.

Klopapier zum Wucherpreis am Kiosk

Die Besonnenen, pfiffigen, wie der Mülheimer Kioskbesitzer, der jetzt zehn Rollen zweilagiges Toilettenpapier für fünf Euro verkauft, oder Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der die Soforthilfe für Freiberufler und Unternehmen garantiert, derweil die anderen Landeschefs noch grübeln, sind jetzt im Vorteil. Manchen kommen auch einfach nicht mit. Und folgern verwirrt: Mit mir nicht. Ich lebe mein Leben weiter.

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Spürbar leer: Das Trainingsgelände des 1. FC Köln.

Am Rheinboulevard kehren Müllwerker die Reste der Nacht weg. Chipstüten, Dosen, und, ja: Splitter von Corona-Flaschen. „Es ist verrückt, aber am Mittwochnachmittag ist es hier immer voller geworden und abends wurden Corona-Partys gefeiert“, sagt einer vom Kehrdienst. Es gab eine Versammlung mit mehreren Hundert Menschen, die vom Ordnungsamt aufgelöst werden musste. Die Müllwerker beseitigen mit dem Hochdruckreiniger die Relikte der Party, etwa zeitgleich sagt Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker, sie sei entsetzt, „dass auch in Köln einige noch nicht verstanden haben, wie ernst die Lage ist. Ein Kölsch in der Sonne mag verlockend sein, aber es ist jetzt nicht mehr möglich ...“

Hier können Sie hören, was Kölns Oberbürgermeisterin zu sagen hat

Sie droht mit härteren Maßnahmen, die für den Wurzelsepp namens Homo sapiens womöglich alternativlos sind, um den Duktus der maßvoll strengen, unaufgeregten Kanzlerin zu bemühen. Etwa zeitgleichzu Rekers Rede stirbt in einem Madrider Krankenhaus jede 16 Minuten ein Mensch an dem Virus.

In Köln wird zweites Infektionsschutzzentrum eröffnet

Etwa zeitgleich wird in Holweide ein zweites Infektionsschutzzentrum geöffnet, um mehr Tests durchzuführen und Patienten zielgerichteter versorgen zu können. Etwa zeitgleich berichtet Cem Özdemir, dass er das Virus hat, lässt sich Ursula von der Leyen testen, sagt der niederländische Ministerpräsident: „Wir können zehn Jahre kacken, so viel Klopapier haben wir“, sagt Bezirksbürgermeister Andreas Hupke auf dem Markt am Chlodwigplatz, er habe Sorge, dass jetzt jeder zuerst und vor allem an sich denke. „Es geht jetzt um körperliche Distanz, abernicht um soziale“, sagt Hupke. „Ich bin ein Nachkriegskind. Nach dem Krieg haben die Menschen die Armut überstanden, weil sie zusammengehalten haben. Was ist jetzt mit Haus- und Grundbesitzern? Ich habe eben mit einer Frau gesprochen, die ihre Miete nicht mehr zahlen kann. Deren Vermieter hat aber gesagt: Tut mir leid, sie hätten Finanzvorräte bilden müssen.“

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Klopapier, sagt Hupke, habe seine Familie nach dem Krieg gar nicht gekannt. „Wir haben die Zeitung genommen.“ Abstecher nach Rodenkirchen. Vor dem Drogeriemarkt und der Apotheke eine Schlange, am Rheinufer flechtet eine junge Frau einen Gänseblümchenkranz. Am Wasser kniet eine alte Frau und wäscht. Die Hemden und Unterhosen breitet sie auf Taschen aus. Sie habe vor drei Wochen ihre Wohnung verloren, sagt die Frau, „nach 27 Jahren! Weil ich zweimal die Miete nicht zahlen konnte“. Sie schlafe jetzt „mal auf der Straße, mal im Obdachlosenasyl“. Geld will sie nicht, auf keinen Fall. „Ich bekomme meine Rente. Ich habe nur kein Dach über dem Kopf.“

Köln hat sich verändert

Spürbar anders ist es in der ganzen Stadt. Der gleichnamige Slogan des 1. FC Köln, der auf einer Werbebande des Trainingsplatzes am Geißbockheim steht, trifft es gerade ganz gut. Der FC, nach einem vermutlich überlegenen Heimsieg gegen Mainz 05 schon auf Tabellenplatz neun, hätte sich am Donnerstag voller Zuversicht auf sein Spiel gegen Fortuna Düsseldorf vorbereitet. Nach dem Sieg im Revierderby hätte Trainer Markus Gisdol erstmals das Ziel Europa League ausgegeben. Jetzt posieren Zwillinge, die heute Geburtstag haben, vor dem Rasen, den ein Platzwart mit Sand versetzt, um den Graswuchs zu mindern, und hoffen, dass der FC bald wiederkickt. Die Eltern lächeln, die Jungs haben Geburtstag, Zuversicht ist jetzt wichtig.

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SMK-Brasack

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Im Optimismus sind die Kölner seit jeher gut. Auch wenn der FC mal wieder abstieg, die Innenstadt verdreckte, Politiker mauschelten, das Image litt, blieben die Menschen nachsichtig, tolerant, feierfreudig.

Die Stadt, die mit einigem Recht fürs heimelige Wohlfühlen steht, sieht sich jetzt mit Sicherheitsdiensten vor Drogerien und Ordnungskräften konfrontiert, die Uneinsichtige auseinandertreiben. Mit Menschen, die Familien von Balkonen fotografieren und dazu wütende Kommentare ins Netz stellen, und zum Glück auch solchen, die sich für Alte und Kranke aufreiben, kreativ Solidarität organisieren. Bis auf weiteres gibt es keinen Fußball, keine Kneipe, keine offenen Geschäfte, keine begehbaren Spielplätze in der Stadt, um sich abzureagieren. Und die Angst, auf sich zurückgeworfen und mit seiner Existenz konfrontiert zu sein, zu verdrängen. Derarme Wurzelsepp muss jetzt über sich hinauswachsen. Abstandwahren und zusammenhalten.