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„Dramatischer Notstand“Stadt Köln verstößt gegen das Schulgesetz

Lesezeit 5 Minuten
Gesamtschule

Lernen in der Gesamtschule - die Plätze sind begehrt.

  1. Fast jedes dritte Kind, das sich für eine Kölner Gesamtschule bewarb, erhielt eine Ablehnung.
  2. Die Schulform bleibt trotz Rückkehr zu G9 bei Eltern beliebt.
  3. Ministerin Yvonne Gebauer sieht die Stadt in der Pflicht nachzubessern.

Köln – Die Lehrergewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) spricht von einem „dramatischen Notstand“, Elternvertreter beklagen ein „anhaltendes Desaster“. Denn Tatsache ist: Die Stadt Köln hat an 950 Kinder, die an einer Gesamtschule angemeldet worden waren, eine Ablehnung verschickt. Im vergangenen Jahr waren es 733, ein Jahr zuvor 960. Das Elternrecht auf freie Schulwahl ist in der größten Stadt NRWs faktisch abgeschafft. Das verstößt gegen das Schulgesetz.

Die aktuelle Zahl an Ablehnungen ist deutlich höher, als von den Verantwortlichen erwartet. Sie hatten nach der Rückkehr der Gymnasien zur neunjährigen Schulzeit bis zum Abitur darauf gehofft, dass damit ein wichtiger Grund für Eltern entfällt, ihre Kinder an Gesamtschulen anzumelden. Das Gegenteil ist eingetreten: Die Nachfrage nach Gesamtschulplätzen ist sogar noch einmal deutlich angestiegen. Da ist Köln kein Einzelfall.

Stark nachgefragte Schulform

„Die Gesamtschulen sind und bleiben auch nach der Rückkehr zu G9 am Gymnasium eine bei Eltern stark nachgefragte Schulform“, teilt das NRW-Schulministerium mit. „Es besteht in vielen Teilen Nordrhein-Westfalens ein Bedarf an zusätzlichen Plätzen über das bestehende Angebot hinaus.“ Die Länge der Schulzeit sei „eher kein ausschlaggebendes Kriterium“ bei der Entscheidung für Gesamtschulen gewesen, sagt auch der neue Kölner Schuldezernent Robert Voigstberger.

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„Offenbar spielen für die Anmeldeentscheidung von Eltern und Kindern andere Kriterien eine wichtigere Rolle.“ Daraus lasse sich ableiten, dass ein zunehmender Anteil der Eltern ihre Kinder an einer Gesamtschule anmelden möchte, die alle Schulabschlüsse ermöglicht und damit für die weitere schulische Karriere verschiedene Optionen an einer Schule eröffnet.“

Auch an Gymnasien wird es eng

In dieser Woche endete in Köln auch die Anmeldefrist für die anderen weiterführenden Schulformen. Dass es auch an den Gymnasien eng wird, ist klar. Im vergangenen Jahr fehlten an dieser Schulform 200 Plätze, die dann durch größere Klassen und zusätzliche Eingangsklassen notdürftig geschaffen wurden. Die Probleme an den Gymnasien sind auch eine direkte Folge des Mangels an Gesamtschulplätzen. Wer an Gesamtschulen abgelehnt wird, muss sich eine andere Schulform suchen.

Die Landeselternschaft der integrierten Schulen in NRW glaubt, dass rund ein Drittel der abgelehnten Viertklässler anschließend in ein Gymnasium geht. Folgt man dieser Annahme, wären in einer Stadt wie Köln keine unerfreulichen Notlösungen an Gymnasien nötig, wenn eine ausreichende Zahl an Gesamtschulplätzen existieren würde. Die Landeselternschaft fordert deshalb eine „neue Priorisierung in der Schulentwicklung“.

Köln hinkt bei Bildung hinterher

Die Folgen des Mangels sind nicht nur für die betroffenen Familien dramatisch. Ein gutes Bildungsangebot ist ein zentraler Standortfaktor für eine Stadt, die prosperieren will. Hinzu kommt: Köln wächst rasant, aber die Stadt bekommt die damit verbundenen Herausforderungen nicht in den Griff. So wie es beim Wohnungsangebot mangelt und es in der Verkehrsinfrastruktur knirscht, so hinkt die Stadt auch bei ihrem Schulangebot hinterher.

2019 wechselten knapp 8500 Viertklässler von der Grundschule in eine weiterführende Schule. In diesem Sommer werden es schon 9300 sein. In den nächsten Jahren werden die Zahlen weiter steigen. Bald auf mehr als 10 000 angehende Fünftklässler. Wer die Stadt fragt, wo sie all diese Kinder unterrichten will, bekommt bislang nur ausweichende Antworten.Die Stadt verweist auf viele laufende Planungen, neue Organisationsstrukturen und Beschleunigungsmaßnahmen.

Doch nichts wirkt kurzfristig. Erst in fünf Jahren sollen neue Gesamtschul-Gebäude eröffnet werden, so die Stadt. Schuldezernent Voigstberger will vorgezogene Starts an Interimstandorten in den Stadtteilen Ossendorf und Weidenpesch ermöglichen. An anderen Gesamtschulen würden zur Zeit Erweiterungen geprüft.

Benachteiligung der Gesamtschule

Das in Köln bestimmende politische Bündnis aus CDU und Grünen bemüht sich – genau wie Voigstberger und seine Vorgängerin Agnes Klein (beide SPD) – bei schulpolitischen Beschlüssen um Ausgewogenheit. Mal wird ein neues Gymnasium, mal eine neue Gesamtschule beschlossen – so versteht man vor Ort offenbar den auf Landesebene geschlossenen „Schulfrieden“, mit dem die ideologischen Grabenkämpfe der Vergangenheit beendet wurden.

Tatsächlich führt diese Praxis aber zu einer Benachteiligung der Gesamtschulen, sagen Gewerkschaft, Elternvertreter sowie SPD und Linke. An Gymnasien wird kein Kind abgelehnt, mit Notmaßnahmen möglichst jedem ein Platz beschafft. Bei den Gesamtschulen dagegen akzeptiert die Stadt seit Jahren, dass Hunderte keinen Platz bekommen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vermutet „bildungsideologische Gründe“ dafür, dass eine offensichtliche Entwicklung seit Jahrzehnten „hartnäckig ignoriert“ werde. Köln leidet unter Versäumnissen, deren Ursprung vor der Amtszeit der parteilosen Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker liegt. Und doch dürfte der anhaltende Mangel eine Traumvorlage für die Kritiker im Rathaus im beginnenden Kommunalwahlkampf sein. „Frau Reker hat den Ernst der Lage nicht erkannt“, so die Kölner SPD-Fraktion. Ihr Oberbürgermeister-Kandidat Andreas Kossiski hat bereits angekündigt, die Schaffung von Gesamtschulplätzen zur Priorität machen zu wollen.

Schulsystem, das spaltet

Mancher nutzt die aktuellen Entwicklungen auch dazu, noch einmal eine Grundsatzdebatte über das Schulsystem in NRW anzufangen. Die Kölner Initiative „Mehr Gesamtschulen in Köln“, in der unter anderem Linke und Gewerkschafter mitarbeiten, wirbt für „eine gemeinsame Schule für alle“ als Alternative zum „alten dreigliedrigen Schulsystem“, das weiter selektiere und spalte anstatt zu fördern.

Es sind nicht nur die hohen Ablehnungszahlen, die als Argument dienen. Das Beispiel Köln zeigt auch, dass ein größeres Angebot stets zu einer höheren Nachfrage führte. Fast alle neuen Gesamtschulen, die in den vergangenen Jahren eröffneten, wurden regelrecht überrannt. Selbst Schulen, die in Provisorien arbeiten, hatten mehr Anmeldungen als Plätze. So waren die Anmeldezahl in der neuen Ehrenfelder Heliosschule seit drei Jahren rund doppelt so hoch wie verfügbare Plätze. Im Stadtteil Vogelsang schreckte Familien die Aussicht auf ein Containerdorf nicht ab: Die Schule am Wasseramselweg startete vor zwei Jahren sechszügig – trotz damals noch fehlendem Gebäude und schlechter Verkehrsanbindung.

Für den Schulbau ist die Kommune zuständig, für das, was in den Schulen stattfindet, das Land. Man stehe den Kommunen beratend zu Seite, sagt das Schulministerium auf die Frage, wie sich die Lage bessern könnte. Die aus Köln stammende Ministerin Yvonne Gebauer (FDP) möchte ihre Stadt nicht maßregeln. Das überlässt sie ihrer Pressestelle. Die Stadt sei „verpflichtet“, Schulen zu bauen, wenn „in ihrem Gebiet ein Bedürfnis dafür besteht“, zitiert das Ministerium das Gesetz und stellt klar, dass dies nicht irgendeine Schule sein kann. Vielmehr gehe es darum, dass ein „entsprechendes Bildungsangebot“ der gewünschten Schulform „in zumutbarer Entfernung“ zur Verfügung steht. Das könnte man auch einfacher ausdrücken: Die Stadt Köln verstößt gegen das Schulgesetz.