Der Hamburger war auf dem Weg nach Köln zu einer Talkreihe des „Kölner Stadt-Anzeiger“, als er am 11. Februar tödlich verunglückte.
Fahrt nach KölnHistoriker Thomas Großbölting stirbt bei ICE-Unglück in Hamburg
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Der Hamburger Historiker Thomas Großbölting, hier im Jahr 2022 bei der Vorstellung seiner Studie zum Missbrauchsskandal im Bistum Münster, ist am 11. Februar bei einem Zugunglück ums Leben gekommen.
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Joachim Frank ist Chefkorrespondent des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Gastgeber der Veranstaltungsreihe „frank&frei“. Er schreibt von dem Abend, an dem Professor Thomas Großbölting nicht wie verabredet in Köln erschien.
Erst ist es nur ein Moment der Verwunderung, eine harmlose Irritation, mehr nicht. Am Dienstagabend sollte Professor Thomas Großbölting bei „frank&frei“, der Talkreihe des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in der Kölner Karl-Rahner-Akademie, auf dem Podium sitzen. Meine Einladung zum Gespräch über den Stand der Aufarbeitung im Missbrauchsskandal hatte er am Telefon spontan und freudig angenommen. Mit der Autorin Christiane Florin, Abteilungsleiterin „Kultur aktuell“ beim Deutschlandradio, und mir hatte er schon in der Vergangenheit diskutiert. Doch zum vereinbarten Termin um 19:00 ist Großbölting nicht da.
Die Bahn, Verspätung, das Übliche. Ach ja, es gab Schwierigkeiten auf der ICE-Strecke Hamburg – Köln. Ein Unfall wohl. Klar, das bringt den Fahrplan durcheinander. Sicher kommt er gleich. Seltsam nur, dass er sich gar nicht mehr gemeldet hat. Ans Handy geht er auch nicht. Überhaupt nicht seine Art… Egal, wir fangen jetzt mal an.
Thomas Großböltings Stuhl bleibt an diesem Abend leer
In der Diskussion mit Florin und dem Publikum sage ich wiederholt Sätze wie: „Das werden wir dann Professor Großbölting fragen, sobald er eingetroffen ist. Dazu kann er bestimmt noch mehr sagen…“ Als einen der kundigsten, versiertesten und engagiertesten Experten zum Thema Aufarbeitung hätte ich ihn vorstellen wollen, als Verfasser von Standardwerken zu Religion und Gesellschaft in Deutschland, zu den systemischen Ursachen von Missbrauch in der Kirche. Ich war gespannt auf seine aktuelle Sicht der Dinge, auf seine Erkenntnisse zum Fall des Essener Kardinals Franz Hengsbach, zu dem er gerade eine Studie erarbeitet. Noch eine.

Am Gesprächsabend „frank&frei“ des „Kölner Stadt-Anzeiger“ am 11. Februar in der Kölner Karl-Rahner-Akademie mit der Autorin Christiane Florin (DLF) und KStA-Chefkorrespondent Joachim Frank sollte auch Professor Thomas Großbölting teilnehmen.
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Doch Großböltings Stuhl auf dem Podium bleibt an diesem Abend leer.
Auch nach zwei Stunden Warten unveränderte Lage. Funkstille. Jetzt doch Unruhe, wachsende Sorge: Was mag da wohl los sein?
Wir sitzen nach der Veranstaltung noch in kleiner Runde zusammen. Einer schaut auf sein Smartphone, sagt mit gedämpfter Stimme: „Es gab einen Toten bei dem ICE-Unglück. Ein Mann, 55 Jahre.“ So alt wie Thomas Großbölting. Etwas später noch die Information: Der Tote ist Hamburger. Wie Großbölting.
Thomas Großbölting war ein kluger, empathischer, warmherziger Mensch
Nach einer kurzen Nacht und einem lang und länger werdenden Vormittag die schreckliche Gewissheit: Großbölting befand sich auf der Fahrt nach Köln im ICE 613, der im Süden Hamburgs auf einen Sattelschlepper prallte. Dabei erlitt er so schwere Verletzungen, dass Ärzte und Sanitäter am Unfallort sein Leben nicht mehr retten konnten.
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Professor Thomas Großbölting und Christiane Florin (DLF) auf der phil.Cologne 2021 in einer Podiumsdiskussion zum Missbrauchsskandal.
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Wenn ein Mensch sein Leben verliert, ist das immer schrecklich. Für die Angehörigen, die Freunde, die Bekannten. Das weiß man auch als Fernstehender, wenn man von Unglücksfällen in der Zeitung liest, sie im Internet wahrnimmt, im Radio oder Fernsehen davon hört. Aber jetzt, auf einmal, wird die Kurzmeldung zur Katastrophe.
Sturz in einen Abgrund. Wie betäubt. Nach Halt suchen, mit den Armen rudern und um Fassung ringen: Er war auf dem Weg zu uns, zu mir… Nein, du kannst nichts dafür, es ist nicht deine Schuld, natürlich nicht. „Kein Schicksal, keine Verantwortung, nur ein blinder Zufall“, schreibt eine Freundin. Und doch ist es ein quälender Gedanke.
Thomas Großbölting war nicht nur ein herausragender Wissenschaftler, sondern auch ein kluger, empathischer, warmherziger Mensch. Seine Geradlinigkeit, sein Gespür für Recht und Unrecht, seinen Einsatz für die Wahrheit und seinen gerechten, ja seinen heiligen Zorn über das Versagen der Kirche im Umgang mit Missbrauchsverbrechen habe ich bewundert. Das Engagement in der Aufarbeitung war für die Betroffenen von unschätzbarem Wert. Großbölting war jemand, auf den sie setzten, von dem sie sich gesehen und verstanden wussten. Das bleibt. Wie so vieles. Für seine Expertise, seine Analysen und Interviews im „Kölner Stadt-Anzeiger“ und für seinen Rat bin auch ich ihm dankbar. Umso mehr werde ich, werden viele ihn vermissen.
Ein ausführlicher Nachruf auf Professor Thomas Großbölting folgt in den nächsten Tagen.