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frank&freiHat die Kirche verstanden? Diskussion zu Missbrauchsskandalen

Lesezeit 4 Minuten
In der Gesprächsserie frank&frei kritisiert Christiane Florin (rechts) die unzureichende Aufarbeitung der Kirche.

In der Gesprächsserie frank&frei kritisiert Christiane Florin (rechts) die unzureichende Aufarbeitung der Kirche.

Christiane Florin beleuchtet die mangelnde Aufarbeitung kirchlicher Missbrauchsfälle.

„Ihr habt mich benutzt wie ein Stück Fleisch, das euer Eigentum war“, schreibt Heinz, der als Kind in einem Heim der Caritas missbraucht worden ist. „Ich fühle nur noch Wut und Hass für euch.“

Zwei Zitate aus dem bitter anklagenden Brief, den der 66-Jährige eigens für die Veranstaltung „Wir haben verstanden?“ geschrieben hat, die am Dienstag in der Karl-Rahner-Akademie stattfand. In der Reihe „frank & frei“ diskutierte Christiane Florin, Leiterin der Abteilung „Kultur aktuell“ beim „Deutschlandfunk“, mit Moderator Joachim Frank, Chefkorrespondent des „Kölner Stadt-Anzeiger“, über den Stand der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in kirchlichen Einrichtungen.

Protagonist des Buches war sexuellen Übergriffen ausgeliefert

Im Mittelpunkt standen Heime, denn kürzlich ist Florins Buch „Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte“ herausgekommen. Florin war es auch, die jenen Brief vorlas. Danach herrschte beklommenes Schweigen im Saal.

Als Vollwaise war Heinz, der 1965 mit sechs Jahren in die Einrichtung kam, einer sadistischen Erzieherin und einem sexuell gewalttätigen Priester völlig schutzlos ausgeliefert. Erst Jahrzehnte später begann er, davon zu erzählen, es aufzuschreiben und mit anderen Betroffenen dafür zu kämpfen, dass die Verantwortlichen ihre Schuld anerkennen.

Man hat nichts verstanden
Christiane Florin

Florin erzählt in ihrem Buch seine Geschichte, lässt ihn zu Wort kommen und schildert, wie die Caritas reagierte, als die Autorin sie im Zuge ihrer Recherchen mit dem Leid des Mannes konfrontierte. Dazu bemerkte sie spöttisch: „Die Aufklärungsenergie zwischen der Caritas und mir war recht ungleich verteilt.“ Der Befund entsprach dem, was sie in einem im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erschienenen Interview mit Frank geäußert hatte: Ihr sei bei der Recherche aufgefallen, „wie schweigsam die großen kirchlichen Träger – Caritas, Diakonie und Ordensgemeinschaften – sind“.

Heinz gelang es, dass sich der Träger seines früheren Heims mit ihm und andere Betroffenen ein paar Mal zusammensetzte. Als Florin die Protokolle dieser Sitzungen las, war sie erstaunt, dass wiederholt die Frage aufkam, warum die Betroffenen auf einer „Aufarbeitung“ bestehen würden. Daraus schließt die Autorin: „Man hat nichts verstanden.“

„Man hat nichts verstanden“, sagt Florin.

„Man hat nichts verstanden“, sagt Christiane Florin.

Für die Opfer sei vieles, was ihnen in der Kindheit widerfuhr, im Dunklen geblieben, und sie wollten Fragen beantwortet haben, um „ein Stück ihrer Lebensgeschichte“ zurückzubekommen. Weshalb tun sich kirchliche Wohlfahrtsverbände so schwer, sich dem Geschehenen zu stellen? „Die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und dem, was war, ist einfach zu groß“, sagte Florin und sprach von der „Angst vor Imageverlust“. Das Selbstbild einer Organisation, die sich „dem Schutz der Schwächsten“ verschrieben habe, passe nicht zum tatsächlichen Umgang mit den Kindern.

Was hat sich seit 2010, als die Entdeckung von Missbrauchsfällen am Berliner Canisius-Kolleg einen bundesweiten Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche auslöste, getan? Zur Fragen nach dem Stand der Aufarbeitung war als Experte auch der Hamburger Historiker Thomas Großbölting eingeladen. Was an diesem Abend weder Veranstalter noch Teilnehmende wussten: Der 55-Jährige starb auf der Anreise nach Köln bei dem ICE-Zugunglück im Süden Hamburgs.

Florin: Niemand scheint einen moralischen Druck zu spüren

Florins Bilanz der zurückliegenden 15 Jahre fiel tendenziell düster aus: Seit einer von beiden große Kirchen angestoßenen Studie zur konfessionellen Heimerziehung aus dem Jahr 2011 sei das Versprechen, die Verhältnisse in den Heimen systematisch zu untersuchen, nicht eingelöst worden, kritisierte Florin.

Allerdings sei „in der Öffentlichkeit viel passiert“, und zweifellos sei einiges für die Prävention getan worden. Frank brachte den Beitrag der staatlichen Justiz ins Spiel: Der ehemalige Priester Ue. wurde als Serientäter zu zwölf Jahren Haft verurteilt. In einem Zivilprozess wurde das Erzbistum Köln zur Zahlung von 300.000 Euro Schadenersatz an den ehemaligen Krankenhausseelsorger Georg Menne verpflichtet, der als Kind von einem Priester sexuell missbraucht worden war.

Die juristische Aufarbeitung reiche aber nicht aus, sagte Florin. Von den Kirchen und ihren Organisationen forderte sie, nicht erst auf Druck der Betroffenen und der Medien tätig zu werden, sondern aus eigenem Antrieb.

Haben die Missbrauchsstudien, etwa die von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene und 2018 veröffentlichte MHG-Studie, nichts genützt? „Keine der systemischen Forderungen ist in eine Veränderung gemündet“, konstatierte Florin, denn dies würde das kirchliche „Machtsystem“ ernsthaft gefährden. Machtstrategisch gesehen bestehe kein Veränderungsbedarf.

Wo aber bleibe die ethische Sicht? „Niemand scheint einen moralischen Druck zu spüren“, sagte die Autorin. Ihr Plädoyer: Man könne Betroffenen wie Heinz das Leid erträglicher machen, indem man ihnen mit einem „Ansatz von Empathie“ begegne und sich aufrichtig dem stelle, was ihnen geschehen ist.