Kalk – Einige Kalk Legenden sind gar nicht lustig: „Manche schauen uns so herablassend an. Die Leute gehen vorbei und schauen so von oben. Schauen uns an wie Dreck“, erzählt einer aus der Gruppe, die sich regelmäßig im Breuerpark trifft, um dort ihr Bierchen zu trinken.Immerhin gebe es diese stillschweigende Übereinkunft mit dem Ordnungsamt: So lange das Grüppchen am Ende des Tages die leeren Flaschen und Kippen entsorgt, sagt niemand was. Das sei auch gut so, denn diese Gemeinschaft sei für viele wie eine Familie, und noch mehr: „Wir sind der Kern. Die Letzten aus dem Kalk von damals.“
Aufgeschrieben hat dies Alexander Estis, er ist seit Anfang April als Veedelsschreiber im Stadtteil unterwegs, um Geschichten – so genannte „Kalk Legenden“ – aus den unterschiedlichen sozialen, ethnischen und kulturellen Milieus zu sammeln.
Lebendig, farbig, derb
„Die Leute im Breuerpark gehörten für mich zu den Höhepunkten, sie erzählen sehr lebendig und farbig, auch derb manchmal, eine ganz eigentümliche Sprache.“ Häufig gehe es um Drogensucht oder Prostitution, eine ganz besondere Sicht auf das Veedel und seine Geschichte jedenfalls. Über eine Zeit, als sich die Abhängigen noch an der Kalker Post trafen, als viele von ihnen noch zusammen in einem leerstehenden Haus lebten – und es geht natürlich auch um die, die es nicht geschafft haben.
Kontakt
Die bisher verfassten Kalk Legenden sind online auf dem Ostblog nachzulesen. Sie sind dort mit Veedelsschreiber gekennzeichnet. Wer selbst eine Geschichte oder Anekdote erzählen möchte, kann sich telefonisch (01762/1626870 ) oder per E-Mail direkt an den Veedelsschreiber wenden. (hwh)https://ostblog-kalk.de/alexander@estis.de
„Sie möchten auch ein Buch über diese Zeit schreiben, es soll »Rondell« heißen, nach einem Treffpunkt vor einem Supermarkt“, berichtet Estis: „Deshalb erzählten sie auch gern.“ Aber auch ganz allgemein seien die Kalker sehr offen, sagt der Schriftsteller, der ungefähr zehn Kalk Legenden auf dem Ostblog veröffentlicht hat. Aufgrund von Corona sei es derzeit aber schwieriger, Menschen überhaupt auf der Straße anzusprechen, deshalb möchte er das ursprünglich bis Ende Mai angesetzte Veedelsschreiber-Projekt verlängern. Die Stiftung Kalk Gestalten hatte es gemeinsam mit dem „Ostblog Kalk“, einer Initiative der Sozialraumkoordination Kalk, des Integrationshauses, der Geschichtswerkstatt und des Vereins Kunts, angestoßen, finanziell gefördert wird es im Rahmen des Programms Starke Veedel – starkes Köln.
Schüler will Nachsitzen
Die Verlängerung ist auch deshalb möglich, weil der in der Schweiz lebende Alexander Estis in Kalk einen „großzügigen Vermieter“ gefunden hat und ihm zwischendurch viel Zeit für andere literarische Arbeiten bleibt. Aber die Leute im Veedel interessieren ihn, so Estis. Die Frau zum Beispiel, deren Mutter so religiös war, das sie in der Karwoche die Leiden Jesu förmlich am eigenen Leib spürte und die Dreifaltigkeit großformatig mit Pigment- und Goldfarbe auf den Boden der Terrasse malte. In der Westerwaldstraße war das, wie im Blog nachzulesen ist. Oder der etwas kuriose Schüler der Grüneberg-Schule: „Manchmal vermisse ich das Nachsitzen. Dann gebe ich mir selbst Hausaufgaben und mache sie nicht, damit ich nachsitzen muss. Dann sage ich meiner Mutter: Ich habe die Hausaufgaben nicht gemacht. Und dann muss ich nachsitzen. Ich bin schlau.“
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Die Initiatoren des Veedelsschreiber-Projekts sind mit der Verlängerung glücklich, denn sie sind zeitlich etwas in Verzug gekommen. „Wir wollten die Texte ja auch als Audio-Dateien zur Verfügung stellen, aber dazu müssen sie aufbereitet und eingesprochen werden, das ist doch aufwendiger als wir dachten“, sagt Elizaveta Khan vom Integrationshaus. Heiko Schomberg vom Vorstand der Kalk Gestalten erzählt, dass die Legenden auch auf dem Instagram-Account veröffentlicht werden sollen, um weitere Gruppen zu erreichen. Jonas Linnebank vom Verein Kunts erinnert daran, dass online jeder Kalker mitmachen kann: „Wer eine interessante Geschichte aus dem Veedel hat, soll sie einschicken.“
Für den Sozialraumkoordinator Alexander Tschechowski geben die Geschichten sogar Hinweise auf Handlungsbedarf im Stadtteil: „Wenn zum Beispiel der Breuerpark demnächst umgestaltet werden soll, dann müssen wir unbedingt darauf achten, dass die Bierchen-Gruppe da auch weiterhin Platz findet.“ Dann ist da noch Adrian Kasnitz vom Verlag Parasitenpresse, der die Kalk Legenden gern in einem Büchlein versammeln würde. „Das könnte so 60 bis 80 Seiten haben und sollte noch in diesem Jahr erscheinen“, sagt er. Oberbürgermeisterin Henriette Reker, Schirmherrin des Projekts, soll auch eines kriegen.