Köln – „Alles hät sing Zick“ lautet das Motto der Karnevalssession 2022 und des Rosenmontagszuges – und die Weltpolitik hat in Sachen Timing die Karnevalisten fast überholt. Als Zugleiter Holger Kirsch am Mittwochmorgen die Persiflagewagen vorstellt, fällt direkt ein Wagen mit Wladimir Putin als Motiv auf.
In der Nacht hat der russische Präsident Truppen in der Ostukraine aufmaschieren lassen. Seine Karikatur sitzt in Köln in Form eines überlebensgroßen Kleinkinds auf einem der Motivwagen. Der Präsident träumt von der „guten, alten Zeit“ und will sich die Ex-Sowjetunion neu zusammenbasteln. „Der Wagen ist schon seit November in Arbeit“, sagt Wagenbauer Herbert Labusga. Ob er die Aktualität des Themas denn da schon abschätzen konnte? „Ja klar. Der Putin war doch schon immer ein A...“, so Labusga.
Mit einem Hammer versetzt der Autokrat der Ukraine einen Schlag. Das Grinsen darüber, dass er das als Kindergartenkind bei einem Förmchenspiel tut, bleibt einem angesichts der aktuellen Entwicklung im Halse stecken.
Zugleiter Kirsch hat mit seinem Team der Kritzelköpp die Motivwagen passend zum Motto erarbeitet. Man spielt mit dem Thema Zeit, das sich als roter Faden durch den Zoch zieht. „Die Persiflagewagen sind ja unsere ganz große Stärke. Da können wir der Obrigkeit den Spiegel vorhalten und Missstände aufzeigen“, sagte Kirsch am Dienstag bei der Vorstellung des Zuges in der Wagenbauhalle des Festkomitees.
Die Forderung der Jecken „Wladimir, jetzt ist mal Schluss mit lustig“ wird diesen allerdings kaum beeindrucken. Eher weist die düstere Prognose dieses Wagens in die befürchtete Richtung – nach der Ukraine folgen weitere Hammerschläge gegen Kasachstan, die baltischen Staaten und Belarus.
Präsident Lukaschenko, ein Diktator von Putins Gnaden in Belarus, wird auf einem anderen Wagen als tickende Zeitbombe dargestellt, der Wahlen fälscht, die Demokratiebewegung niederknüppeln lässt und ein Flüchtlingsdrama an der polnischen Grenze provoziert.
Auch andere aktuelle Themen greifen die Wagenbauer mit Witz und Biss auf. „Die Erde brennt“ heißt es angesichts Klimakatastrophen, Hungersnöte und kriegerischer Auseinandersetzungen. Es gibt keinen Planet B. Das mögliche Ende der Menschheit sei nur eine Frage der Zeit.
Internationale Themen spielen große Rolle
In Afghanistan, im Irak und in Mali sind die jahrzehntelangen Bemühungen von Nato und Vereinten Nationen, dort demokratische Strukturen und Staaten aufzubauen, gescheitert. Da wurden viele Milliarden Dollar in den Sand gesetzt. Die Fifa dagegen hofft in Katar, wo Frauen nichts zu kamellen haben, Homosexuelle verfolgt werden und tausende Arbeiter auf den Stadion-Baustellen starben, auf goldige Zeiten und einen Geldregen bei der Wüsten-Weihnachts-WM. Da mutierte der Weltpokal zum Totenschädel.
Gefeiert werden dagegen die Biontech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci – Superman und Superwoman sind „Ihrer Zeit voraus.“ Auf nationaler Ebene ist die „Zick eröm“ für Angela Merkel, deren Nachfolger vor allem durch „Fehlzeiten“ auffällt. „Wo ist Olaf Scholz, wenn man ihn braucht, wenn Führung gefragt ist?“, fragen sich nicht nur die Kritzelköpp.
Und auch die Impfgegner kriegen ihr Fett weg „Auf den letzten Drücker …“ „Ohne die hätten wir unser geliebtes Fest vielleicht schon wieder so feiern könnten, wie wir es wollen“, sagte Zugleiter Kirsch.
Kölner Themen von Muezzin-Ruf bis Großmarkt
Als „Schweinepriester vor dem Herrn“ werden die Oberbosse der katholischen Kirche dargestellt, für die die „Zeit der Aufklärung“ noch nicht angebrochen scheint – „Brüder im Nebel“ eben. Ein Wagen, der in Puncto Bissigkeit den Vergleich mit den Entwürfen des Düsseldorfer Wagengurus Jacques Tilly nicht zu scheuen braucht. Wobei man in der Landeshauptstadt das Kölner Motto wohl falsch verstanden hat: Da dort der Zoch erst im Mai laufen soll, fällt der Vergleich aktuell aus. Und im Mai ist Karneval irgendwie Alt.
Zurück nach Köln: „Zur Zeit der letzte Schrei“ ist die einsam getroffene Entscheidung von OB Henriette Reker, in Köln die Muezzine zum Gebet rufen zu lassen.
Und auch am Chaos um Bauvorhaben in der Stadt, für die man sich „alle Zeit der Welt“ lässt, sowie um das Trainingsgelände des 1.FC Köln und das neue Großmarktgelände ist die OB nicht unbeteiligt: „Halb- und Halbzeit“. Da lässt Steffen Baumgart für ein richtiges Gurken-Spiel dann den Anthony Modeste die Kopfbälle mit einem Kopfsalat trainieren und Mark Uht die Flanken mit Bananen.
Zwei geheimnisvolle Wagen noch nicht enthüllt
Während an der FC-Persiflage noch fleißig gewerkelt wurde, waren zwei weitere Wagen noch ganz von dicken Planen umhüllt. „Da sind zwei Geheim-Wagen, die erst man Montag gezeigt werden“, sagte Kirsch. Nur so viel wollte er verraten: Da ist auch noch ein richtiger Spaß-Wagen dabei.“ Er sei richtig stolz auf den Zug, mit dem man auch inhaltlich „sehr stark aufgestellt“ sei.
Zudem seien die Persiflagewagen ja in diesem Jahr doppelt wichtig. Nach der Runde durchs Stadion werden sie für 24 Stunden in der Stadt aufgestellt – an zwölf Standorten entlang des bekanntes Zugweges. Kirsch: „Eine Einladung für die Kölner zu einem Montagsspaziergang, der an dieser Stelle vielleicht mal Sinn macht.“