Köln – Die Karnevalssession 2021/2022 war eine, die nicht nur die historische Friedensdemonstration am Rosenmontag zu etwas ganz Besonderem gemacht hat. Von dem Zwiespalt zwischen kommerziellem und ehrenamtlichem Karneval, der Renaissance der Redner, einem zweifach amtierenden Dreigestirn bis zum Kneipenkarneval ziehen wir eine Bilanz der wichtigsten Punkte.
Konkurrenz für das Ehrenamt durch neue Events
Ob der freiwillige Verzicht auf Sitzungen samt finanzieller Absicherung durch den Staat sein Ziel erreichen wird, das Brauchtum und seine Basis, also vor allem kleine Vereine landauf, landab zu retten, wird man wohl frühestens in einem Jahr abschätzen können. Denn erst dann wird klar sein, ob alle ihr beantragtes Geld auch wirklich bekommen haben. Das ist für Ensemble-Veranstaltungen wie Stunksitzung, Deine Sitzung, Fatal Banal oder Immisitzung von genauso existenzieller Bedeutung wie für manchen Kleinverein, dessen Etat bei einer Rückerstattung von „nur“ 90 Prozent an seine Grenzen kommt.
Die karnevalistische Landschaft vor allem in Köln verändert hat der Deal zwischen Staatskanzlei und Karnevalsoffiziellen jetzt schon. Als die Stimmung im Land kippte und bei vielen der Drang zum Feiern größer wurde als die Angst vor dem Virus, haben mutige Unternehmer wie Deiters-Chef Herbert Geiss oder die Musikveranstalter von Bonnlive schnell reagiert und neue Formate aus dem Boden gestampft. Die sind sehr erfolgreich gelaufen und werden nicht so ohne Weiteres wieder verschwinden. Neue Konkurrenz für Vereine in ohnehin schwierigen Zeiten.
Ein zweifach amtierendes Dreigestirn, dem die Luft ausging
Großen Respekt gilt es dem Dreigestirn zu zollen, dass sich nicht nur die Zeit genommen hat, zwei Sessionen lang die Rollen von Prinz, Bauer und Jungfrau auszufüllen, sondern deren emotionale Auf und Abs sinnbildlich stehen für zwei irrwitzige Jahre Karneval und Corona. Den ständigen Wechsel von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt muss man erstmal verpacken. Sven Oleff, Gereon Glasemacher und Björn „Gerdemie“ Braun sind in vielerlei Hinsicht historisch einmalig: Die ersten Tollitäten mit zwei Amtszeiten, die ersten Geimpft-Geboostert-Genesenen, die ersten, denen es zweimal versagt blieb, am Rosenmontag auf einem Wagen durch die Stadt zu fahren.
Wenn der Auftritt in einem Autokino zu einem Sessionshöhepunkt wird, weiß man, dass der große Spaß für die Drei zumal in ihrer ersten Session oft sehr weit weg war. Dennoch haben sie sich durchgekämpft und vor allem bei zahllosen Sozialterminen die Freude verbreitet, die das jecke Volk von ihnen erwartet. Wie gesagt: größten Respekt dafür.
Schade nur, dass ihnen am vorletzten Tag im Ornat die Luft ausgegangen ist. Beim Kapitel Karneval und Krieg. Bei aller verständlichen Enttäuschung über die erneute Absage des Rosenmontagszuges: Das Drehbuch der Friedensdemonstration, an der statistisch fast jede vierte Bürgerin oder jeder vierte Bürger beteiligt war, hätte zumal Rosenmontag verlangt, dass der „Held Carneval“ und seine Mitstreiter vorne weg marschieren – Prinz, Bauer und Jungfrau an der Spitze von 250 000 Menschen, die für Frieden eintreten. Auch das wäre historisch gewesen.
Ein begeisterndes Herrengedeck
Die oft kleineren, leisen Formate, die zum Ende der Session kurzfristig aufgelegt wurden, haben zu einer Renaissance der Redebeiträge geführt. Ob bei Veranstaltungen vor kleinerem Publikum in großen Sälen oder den „Usjestöpselt“-Formaten etwa in der Volksbühne am Rudolfplatz – plötzlich war Zuhören wieder gefragt. Der Trend der in den letzten Jahren zunehmend erfolgreichen Wirtschaftssitzungen setzt sich also auch in anderen Räumen fort.
Bestes Beispiel für eine neue Rednerkultur ist das „Herrengedeck“, bei dem sich, aus der Pandemie-bedingten Not geboren, die Freunde Volker Weininger, Martin Schopps und Jörg P. Weber zusammengetan haben. Auf der Höhe ihrer Kunst zeigen die drei, was Karneval jenseits der Prunksitzung im Gürzenich auch sein kann: frech, anarchisch, derbe, musikalisch und am Ende vor allem lustig. Beifallsstürme aller Orten waren dem Trio sicher.
Von Tanzveranstaltungen und Brauchtumszonen
„Der Kneipenkarneval ist für mich keine Tanzveranstaltung“ – mit dieser Einschätzung hat Oberbürgermeisterin Henriette Reker eben jenen in dieser Session erst möglich gemacht. Ob aus der naiven Annahme heraus, dass im Brauhaus oder der Wirtschaft op d’r Eck wirklich nur auf Abstand Kölsch getrunken werden würde; oder in dem Wissen, dass sich pandemiemüde Jecke sowieso nicht vom Feiern hätten abhalten lassen, blieb unklar. Das Resultat aber ist dasselbe: Die Corona-Schutzverordnung wurde umgangen, es durfte gefeiert werden.
Erst recht, nachdem Stadtdirektorin Andrea Blome die ganze Stadt zur „Brauchtumszone“ – noch so ein geflügeltes Wort dieser Session – erklärte, und den Karneval damit freigab. Das Partypublikum auf der Zülpicher Straße mal ausgeklammert, wurde in den Veedeln bis auf die bekannten Karnevalshochburgen dann aber doch eher zurückhaltend gefeiert. Wohl weniger wegen Corona, sondern eher wegen des Ukraine-Kriegs. Die endgültige Rückkehr des ausgelassenen Kneipenkarnevals ist damit auf 2023 verschoben.