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„Hey Kölle, du bes e Jeföhl“Warum in kölschen Liedern Heimweh eine zentrale Rolle spielt

Lesezeit 6 Minuten
Kölner Band AnnenMayKantereit spielt bei Open Air Konzert im Rheinenergiestadion.

„Tommi, ich glaub ich hab' Heimweh.“ Henning May beim Konzert von AnnenMayKantereit im September 2023 im Rhein-Energie-Stadion.

„Man liebt Köln oder man liebt Köln nicht“, sagt Henning Krautmacher. „Und wenn man es nicht liebt, hat man es nicht verstanden.“

Warum bloß lernen die Kölschen nicht dazu, wo sie doch felsenfest überzeugt sind, dass Kölle dat Hätz vun d’r Welt es? Warum treibt es sie immer wieder fort in die Fremde, um dort, von Heimweh geplagt, zu der Einsicht zu gelangen, dass sie sich nicht mehr zurechtfinden, ihren Kompass verloren haben und am liebsten wieder zurückkehren würden.

Das kölsche Liedgut ist spätestens seit Willi Ostermanns Klassiker „Heimweh noh Kölle“ aus dem Jahr 1936 voll von diesen Motiven. Man kann ihnen nicht entrinnen. Im Karneval schon gar nicht. „Tommi“, die neueste aller Köln-Hymnen, die AnnenMayKantereit im geselligen Überschwang in ihrem Kölner Studio aufgenommen haben, fällt in diese Kategorie. Und dürfte nicht die letzte gewesen sein.

Dabei gibt es keinerlei auch nur halbwegs wissenschaftliche Erkenntnisse zu der Frage, ob das Heimweh die Kölnerinnen und Kölner stärker packt als die Menschen in Berlin, Hamburg und München. Oder in Düsseldorf.

Vor Rührung in die Blitzerfalle getappt

Nur Indizien. Warum schweigen selbst die härtesten Fans der Gastmannschaften in Müngersdorf, wenn Stadionsprecher Michael Trippel sie in der „schönsten Stadt Deutschlands“ willkommen heißt. Warum gibt es kein gellendes Pfeifkonzert?

Warum steht der erfolgreichste innerstädtische Blitzer auf der Zoobrücke in Fahrtrichtung Nippes auf der Höhe der Amsterdamer Straße? Das kann doch nur daran liegen, dass vom Heimweh geplagten Kölsche bei ihrer Rückkehr vor lauter Rührung beim Anblick des Doms einfach alles vergessen, weil ihnen nur noch das Herz aufgeht und sie in die Falle tappen. Oder einfach nur, weil alle anderen Blitzer auf der Brücke seit Jahren kaputt sind? Nein. Das kann es nicht sein. Das wäre viel zu banal.

Nicht nur die Höhner haben immer wieder versucht, einem Fremden dieses tief empfundene Heimatgefühl zu vermitteln. Das magere Ergebnis zählt zu ihren größten Hits: Hey Kölle, du bes e Jeföhl.

Staffelübergabe beim Erfolgsmusical Himmel und Kölle in der Volksbühne am Rudolfplatz - Fototermin mit einer Brauhaus-Szene des Musicals,
Guido Cantz als Taxifahrer und Henning Krautmacher als Köbes.

Henning Krautmacher als Köbes neben Guido Cantz beim Musical „Himmel und Kölle“ in der Volksbühne am Rudolfplatz.

Henning Krautmacher lacht. Mehr als 35 Jahren war er das Gesicht der Band, die so viele Hymnen über Köln geschrieben hat, in denen sie das Heimweh anfacht und seinen Opfern gleichzeitig Trost spendet. „Die Kölner können zwar nicht erklären, woher dieses Gefühl kommt, aber man kann ihnen jederzeit problemlos entlocken, hier bin ich gut aufgehoben, hier verstehe ich die Menschen und die Menschen verstehen mich“, sagt er. „Trotz aller Unzulänglichkeiten. Das geschieht aus dem Bauch heraus. Diese Stadt lebt von ihren Fehlern und Widersprüchen. Damit kann man sich identifizieren. Es ist eine große Kunst, sich zu seinen Fehlern zu bekennen. Das Entscheidende aber ist, seinem Herzen zu folgen. Man liebt Köln, oder man liebt Köln nicht. Und wenn man es nicht liebt, hat man es nicht verstanden.“

Diese Liebe, sagt Krautmacher, sei aber keineswegs unkritisch. Auch das spiegele sich in vielen Liedern wider. Mit „Kölle, Kölle über alles“ komme man als Band selbst im Karneval nicht weit. „Das hält nicht lange vor, weil die Kölschen einfach spüren, da steckt nichts dahinter.“ Hingegen sei der Bläck Fööss-Klassiker „M’r losse d’r Dom in Kölle“ zum Volkslied geworden, weil das nichts anderes bedeute als „Jetzt lasst uns die Kirche doch mal wieder im Dorf lassen“.

Das Bekenntnis zur Heimat ist nirgendwo so stark wie in Köln
Henning Krautmacher, Ex-Sänger der Höhner

Dass Menschen sich zu ihrer Stadt und ihrer Heimat bekennen, sei nichts Außergewöhnliches und schon gar kein Kölner Alleinstellungsmerkmal, sagt Krautmacher. „Aber das Bekenntnis ist nirgendwo so stark wie in Köln.“

Das habe auch mit dem Dialekt zu tun, aber vor allem damit, dass Köln als kleinste Millionenstadt Deutschlands im Vergleich zu anderen Großstädten wie ein Dorf funktioniere. „Die Kölner loben ihre Millionenstadt immer über den grünen Klee und fühlen sich als heimliche Landeshauptstadt. Gleichzeitig bekennen sie sich zu dem dörflichen Charakter, zu dieser familiären Gemeinschaft und natürlich zu ihren Veedeln, wo jeder jeden kennt. Und sehen darin keinen Widerspruch.“


Willi Ostermann: Heimweh nach Köln

Bläck Föös: Ich han 'nen Deckel

Die Rheinländer: Einmol

Paveier: Ich ben widder Heim jekumme

Klüngelköpp: Wä einmol Kölle sing Heimat nennt

Tommy Engel: Ävver et Hätz bliev he en Kölle

Cat Ballou: Liebe deine Stadt

Kasalla: Home es wo d'r Dom es

Cat Ballou: Heimweh

Höhner: Die schönste Stroß'

AnnenMayKantereit: Tommi


Tünnes und Schäl, die kölschen Gallionsfiguren, sind für Krautmacher das Musterbeispiel für dieser Lebensart. „Der Tünnes, grobschlächtig, dickleibig mit der roten Säufernase, der nur aus dem Bauchgefühl heraus handelt. Dagegen der Schäl, der immer mit einem Auge guckt, was macht denn mein Nachbar? Wie kann ich mein Fähnchen in den Wind hängen? Und dabei ständig versucht, den Intellektuellen zu geben, der er ja gar nicht ist. Die beiden sind grundverschieden, aber unzertrennlich und spiegeln im Grunde die Kölner Gesellschaft wider.“

So schön, sicher und heimelig es im Millionendorf Kölle auch sein mag, irgendwann erwache in jedem die Sehnsucht nach dem Wandel, sagt der Kölner Brauchtumsforscher Wolfgang Oelsner. „Das kann es doch nicht gewesen sein. Da muss es doch noch mehr geben. Ich kann es nicht mehr sehen. Ich muss raus hier, mich weiterentwickeln.“ Diese Sehnsucht nach Wandel bringe Unruhe ins Leben, weil damit Sicherheit und Planbarkeit verloren gingen.

Kinderpsychotherapeut Wolfgang Oelsner

Brauchtumsforscher und Kinderpsychotherapeut Wolfgang Oelsner über die Sehnsucht nach dem Wandel - auch bei Kölnern: „Ich kann es nicht mehr sehen. Ich muss raus hier, mich weiterentwickeln.“

Vor allem die Bläck Fööss hätten es verstanden, diesen Konflikt in ihren Liedern aufzugreifen, „ohne im billigen Regressiven stehenzubleiben, sondern daraus eine Lebensempfehlung zu machen“, erklärt Oelsner. „Ich han nen Deckel“ sei dafür ein gutes Beispiel.

„Da geht einer nach Berlin, aber die Sehnsucht nach seinen Ursprüngen, nach der Heimat bleibt. Aber er kneift nicht, kehrt nicht zurück nach Köln, sondern plant nur einen Urlaub, weil er spürt, dass sein neuer Lebensmittelpunkt längst woanders ist. Das ist der doch ganze Sinn von Urlaub, da sprechen wir anders, ernähren uns anders, haben ein anderes Gruppenverhalten. Das gilt auch für die kleinen Urlaube, wie jeden zweiten Samstag beim FC in der Südkurve.“

Auch der Karneval sei nichts anderes als ein fest geplanter Urlaub, der alle Jahre wiederkehrt. „Aber Karneval auf ewig? Damit wäre jede Entwicklung gestoppt. Alles das nehmen die Bläck Fööss in dieses Lied auf.“

Ganz ähnlich verhält es sich mit „Tommi“. „Man spürt sofort, dass dieses Lied keine bewusste Entscheidung war, sondern mal eben so rausgeflutscht ist“, sagt der Brauchtumsforscher. „In der Stadt, in der wir jung und dumm waren. Und unverwundbar“, singt Henning May. Das sei die wehmütige Erinnerung an eine kindliche Größenfantasie, nach der man sich zurücksehne, „die wunderschön war, aber spätestens mit fünf Jahren nicht mehr trägt und von der man genau weiß, dass man sie nicht mehr zurückholen kann, aber den eigenen Kindern wenigstens die Möglichkeit geben will, sie auch zu erleben. Wenn auch an einem anderen Ort.“

Die Heimatlieder greifen diesen Konflikt zwischen Wandel, Fernweh und Heimweh auf.
Wolfgang Oelsner, Brauchtumsforscher

Weil die Welt für ein paar Tage im Karneval so einfach und überschaubar erscheint, sei die Verlockung groß, dieses Gefühl den Aschermittwoch hinaus in den Alltag mitzunehmen.

„Die Heimatlieder greifen diesen Konflikt zwischen Wandel, Fernweh und Heimweh auf. Das sind die Antipoden des Lebens“, sagt Oelsner. „Sie wandeln dieses Gefühl in Sprache um. Wenn das alles nicht frei flotiert, kann man Bluthochdruck kriegen und magenkrank werden. Im Karneval kann man das alles rauslassen. In der Vereinfachung und der Gemeinschaft mit anderen. Dem geht es doch genauso, dem Nachbarn. Das hat auch etwas Tröstliches.“