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„Es fehlt an Begründung“Laschets eigene Beraterin kritisiert seine Corona-Politik

Lesezeit 8 Minuten
ChristianeWoopen

Die Kölner Medizinethikerin Christiane Woopen gehört dem Corona-Expertenrat des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet an.

  1. Christiane Woopen ist Ärztin und Medizinethikerin. Seit 2009 ist sie Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität zu Köln.
  2. Seit 2017 ist sie Vorsitzende des Europäischen Ethikrats. Woopen gehört dem Corona-Expertenrat des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet an.
  3. Im Interview spricht sie über die Corona-Pandemie, die weltweite Impfstoff-Verteilung und das erschütterte Vertrauen in die Politik.

Frau Professorin Woopen, wir laufen auf den ersten Jahrestag des Frühjahrs-Lockdowns in Deutschland zu. Wenn wir alles auf Null stellen könnten, was müsste anders laufen?Dieses Gedankenexperiment haben wir mit dem Europäischen Ethikrat und der Gruppe hochrangiger Wissenschaftsberater der Europäischen Kommission für unsere letzte Stellungnahme bereits durchgeführt und gefragt: Wie bereiten wir uns am besten auf eine nächste Pandemie vor? Drei Faktoren sind zunächst entscheidend: Erstens ein besseres wissenschaftliches Frühwarnsystem. Das geht nur in internationaler Kooperation. Zweitens eine schnelle Verfügbarkeit an Schutzmaterialien. Denken Sie daran, dass es in der ersten Welle noch nicht einmal simple OP-Masken in ausreichender Menge gab. Und drittens braucht es eine mindestens europäische Koordination der Wissenschaften, um die richtigen Fragen zu stellen und schnell die besten Forscherinnen und Forscher an deren Beantwortung zu setzen.

Welches sind die richtigen Fragen?

Dazu gehören etwa die Identifizierung des Erregers, seine Übertragungswege, die verursachten Krankheiten sowie ihre Vermeidung und Behandlung, aber auch die psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und der Maßnahmen zu ihrer Bewältigung. Langfristig geht es auch um nachhaltige Lebensweisen und Fragen sozialer Ungleichheit.

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2020 ist schon der allererste Punkt gescheitert: China hat den Corona-Ausbruch wochenlang verschwiegen und verharmlost.

Das stimmt, aber daraus müssen wir lernen. Kein Staat kann am Ende ein Interesse an Alleingängen haben. Ich glaube, wir müssen das auch völkerrechtlich weiterdenken: Welche internationalen Vertragswerke könnten helfen, eine nächste Pandemie zu vermeiden? Wie könnten Impfstoffe als internationales Gemeingut deklariert werden, um nicht wieder in dem Chaos bilateraler Verhandlungen zu landen, wie wir es jetzt erleben? Sollten in Afrika die Corona-Impfstoffe erst 2022 oder noch später ankommen, wird Afrika das dem reicheren Teil der Welt nicht vergeben.

In der globalisierten Welt rettet uns nur globales Denken und Handeln?

Mit einem rein nationalen Pandemie-Management werden wir garantiert scheitern. Die Pandemie ist erst dann vorbei, wenn sie überall vorbei ist. Zurzeit schwört die Politik in Deutschland einseitig auf den Erfolg der Impfungen. Das kann aber furchtbar schiefgehen. Was passiert, wenn eine Mutation von den Impfstoffen nicht erfasst wird? Was ist, wenn die Geimpften weiter ansteckend sind und die Immunität nicht so lange hält wie erhofft? Auf solche denkbaren Szenarien müssen wir uns vorbereiten, sonst landen wir immer wieder im Lockdown. Das „International Science Council“ hat in diesen Tagen eine internationale Arbeitsgruppe gebildet, die all solche zukünftigen Szenarien durchdenkt und Empfehlungen für das globale Pandemiemanagement entwickeln soll.

Wir müssen uns vorbereiten, sagen Sie. Aber wie?

Ganz praktisch: Treiber der Pandemie ist, dass Menschen sich infizieren und das Virus weitergeben. Also muss man Infektionen früh finden, um Infektionsketten zu unterbrechen. Am besten geht das mit einer Kombination von flächendeckenden Maßnahmen. Dazu gehören etwa regelmäßig durchgeführte Schnelltest und digitale Technologien zur tagesgleichen Verfolgung von Infektionsketten.

Die Impfkampagne ruckelt, es gibt viel Kritik. Halten Sie das für einen Kippmoment, was das Vertrauen der Menschen in das Corona-Krisenmanagement der Politik betrifft.

Das Vertrauen ist ja nicht nur deshalb erschüttert. Die Regierung schafft es nicht mehr, verlässliche Perspektiven zu vermitteln und Wege aufzuzeigen, wie es sehr bald wieder ein Leben in mehr Freiheit gibt.

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Das hat auch der NRW-Expertenrat, dem Sie angehören, in seiner jüngsten Stellungnahme bemängelt. Sind Sie als Gremium unterdessen in der Hofnarren-Rolle, der auch mal unbequeme Dinge sagen darf, ohne dass es etwas ändert?

Es ist wie in jedem externen Beratergremium: Wir geben Empfehlungen. Die Entscheidungen trifft die Politik – auch auf der Basis von Überlegungen, die nicht wissenschaftlicher Natur sind. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange diese Überlegungen transparent und gut begründet sind. Aber auch daran fehlt es nach meinem Eindruck. Es wäre aber eine Bringschuld der Politik – bei allem, was sie den Menschen gerade zumutet. Was unser bisheriges Leben ausgemacht hat, ist doch im Moment geradezu wie ausradiert. Eine gewisse Zeit hält man das durch, aber nicht auf Dauer.

Schon jetzt reden wir vom Ausfall des Osterurlaubs…

Eben. Es ist doch keine überzeugende und die Menschen mitnehmende Strategie, dass Ministerpräsidenten jeden Tag Widersprüchliches dazu sagen, was sie jeweils so für richtig halten.

Und der Besuch beim Friseur wird zu einer Frage der Würde.

Zur Würde des Menschen fielen mir wahrlich andere Dinge ein. Jedenfalls vermittelt der Föderalismus – bei all seinen Vorteilen – nicht das Gefühl, dass wir es mit Regierenden zu tun hätten, die sich untereinander so koordinieren, wie es die Pandemie erfordern und der Bevölkerung eine nachvollziehbare Orientierung erlauben würde. Regierungshandeln muss von wissenschaftlicher Evidenz ausgehen und dann überzeugende politische Entscheidungen treffen. Das Virus verhält sich nicht gemäß Parteibuch. Mir ist auch schleierhaft, warum wir nach einem Jahr Pandemie immer noch keine engmaschige wissenschaftliche Begleitung der politisch vorgegebenen Maßnahmen haben, so dass man sie auf der Grundlage besserer Einsichten anpassen kann.

Wie jetzt? Die Virologen und Epidemiologen sitzen doch in jedem Krisenstab und jeder Beraterrunde. Sie selber gehören zum Expertenrat der NRW-Landesregierung. Keine wissenschaftliche Begleitung?

Es braucht Evaluationsstudien. Auch wir als Beraterinnen und Berater brauchen valide Erkenntnisse über die Wirkung und die Folgen der jeweils getroffenen Maßnahmen. Ganz konkret: Wie entwickelt sich das Infektionsgeschehen vor Ort, wenn die Schulen wieder öffnen oder – meinetwegen – die Friseursalons? Oder: Ist es zweckmäßig, Kinos oder Theater noch länger zu schließen?

Wenn Sie die Vielstimmigkeit im Chor der Länderchefs beklagen, was ist dann mit dem Durcheinander in der Wissenschaft? Es gibt zum Beispiel den derzeit viel diskutierten Vorschlag einer Expertenrunde, die mit ihrer „No Covid“-Strategie die Neuinfektionen praktisch auf Null bringen wollen. Was halten Sie davon?

Die Zielsetzung halte ich für absolut richtig: Wenige oder gar keine Infektionen bedeuten weniger schwere Krankheitsverläufe, wenige oder gar keine Neuansteckungen und damit auch ein geringeres Risiko für gefährliche Mutationen, letztlich ein freieres Leben für alle. Kontrovers diskutiert wird der Weg dorthin, etwa die Einteilung des ganzen Landes in grüne und rote Zonen. Wenn man jedoch die Anzahl nicht beherrschbarer Infektionsketten vor allem mit ermöglichenden Technologien auf ein Minimum reduziert, ist das genau der richtige Weg.

Ermöglichende Technologien?

Damit meine ich häufige Tests und den Einsatz technischer Hilfsmittel wie der „Luca App“. Da registriert man sich über einen QR-Code an allen Orten, an denen man sich aufhält. Über eine verschlüsselte Datenübermittlung lassen sich Kontakte zu positiv Getesteten dann sehr leicht nachvollziehen. Das ist datenschutzkonform, und die Gesundheitsämter sind eingebunden. Grundrechtseingriffe halten sich hier sehr im Rahmen und sind allemal verhältnismäßiger als der brutale Lockdown mit der Stilllegung ganzer Lebensbereiche. Ich verstehe deshalb nicht, warum solche technischen Lösungen nicht von der Regierung gefördert und auf gesetzlicher Grundlage eingeführt werden. Die für eine begrenzte Zeit verpflichtende Nutzung einer effizienten App zur Infektionskettennachverfolgung und zur Gewinnung differenzierter Erkenntnisse über das Infektionsgeschehen hätte meines Erachtens eine einende und motivierende Wirkung.

Was meinen Sie damit?

Allen Bürgerinnen und Bürgern wäre klar, was sie tun können, und sie wüssten zugleich, dass sie selbst etwas zur Pandemiebekämpfung beitragen, was mehr ist als bloßer Gehorsam gegenüber der Anweisung, möglichst zu Hause zu bleiben. Menschen erleben sich wieder als Souverän ihres eigenen Lebens. Und das nicht bloß als individueller Selbstschutz, sondern in Solidarität und Fürsorge für die anderen. Ich glaube, die Bereitschaft dazu ist groß. Aber eben nur dann, wenn man das Gefühl hat, der eigene Einsatz bringt auch etwas und alle ziehen am selben Strang.

Sie sprachen von gesetzlichen Grundlagen für Maßnahmen der Pandemiebekämpfung. Da müsste der Bundestag ran.

Die Parlamente sollten eine gewichtigere Rolle spielen und eine lautere Stimme bekommen. Ich frage mich, ob die Bund-Länder-Runden im Kanzleramt nicht sogar ein systemisches Hindernis sind, innovative und Erfolg versprechende technologische Lösungen umzusetzen.

Inwiefern?

Die Krisenrunden der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs und -chefinnen der Länder brauchen schon Stunden um Stunden, um sich auf Maßnahmen für die nächsten zwei Wochen zu einigen. Wie sollen sie da umfassende Strategien zum flächendeckenden Einsatz neuer Technologien beschließen? Die nun schon seit Monaten erfolgende außerparlamentarische Steuerung lässt womöglich genau deshalb Lösungen außer Acht, die einer parlamentarischen Diskussion und gesetzlicher Fundierung bedürften. Als ich unlängst einem Regierungspolitiker mit der Idee einer weiteren App kam, erwiderte er: „Wir können keine neue Technologie einführen, wir haben die Warn App!“ Da frage ich mich: Warum denn nicht? Ich finde im Gegenteil, wir müssen eine neue Technologie einführen, wenn sie ein hilfreicher Baustein in der Pandemiebekämpfung ist und es ermöglicht, die Freiheiten und Rechte der Bürgerinnen und Bürger so wenig und so kurz wie möglich einzuschränken. Das ist noch nicht mal eine Abwägungsfrage. Das ist ein ethisches Gebot. Dieser ermöglichende Weg ist im Übrigen sogar deutlich kostengünstiger als die Hunderte an Milliarden von Ausgleichszahlungen für die Lockdowns. Mein Leitmotiv lautet: Freiheit in der kontrollierten Pandemie.