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Nachruf auf Franz KersjesKölner Kämpfer für Demokratie in Betrieben

Lesezeit 7 Minuten
Franz Kersjes lächelt in die Kamera.

Franz Kersjes wurde 1965 Mitglied der IG Druck und Papier.

Franz Kersjes war Gewerkschafter aus Überzeugung und lernte seine Solidarität in den Trümmern des zerstörten Köln – ein Nachruf.

Anfang 1959 kam die Einladung zur Musterung. Doch für Franz Kersjes war „unvorstellbar, mich zum Töten anderer Menschen ausbilden zu lassen. Die hätten mit mir tun können, was sie wollten, ich hätte nie eine Waffe in die Hand genommen.“

1956 war die neue Wehrpflicht eingeführt worden. Sie galt mit Einschränkung, denn im Grundgesetz war festgelegt, dass niemand gegen sein Gewissen „zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen“ werden dürfe. Darauf berief sich Kersjes, als er beantragte, als Verweigerer anerkannt zu werden. Der Prüfungsausschuss, vor dem er sich zu rechtfertigen hatte, lehnte seinen Antrag ab. „Natürlich wollten Politiker und Militaristen die Anzahl der Kriegsdienstverweigerer möglichst gering halten“, sagte er im Rückblick.

Franz Kersjes umarmt eine Statue und lächelt in die Kamera.

Franz Kersjes ist im Alter von 84 Jahren gestorben.

Er hatte Glück: Das Gesetz wurde bald dahingehend geändert, dass die einzigen Söhne im Krieg gefallener Väter von der Pflicht zum Wehrdienst ausgenommen wurden. Er war ein solcher Sohn. Statt sich „zum Töten ausbilden zu lassen“, begann er, sich in der Friedensbewegung zu engagieren. In den Jahrzehnten, die folgten, widmete er sich vor allem der gewerkschaftlichen Arbeit, die längste Zeit als NRW-Landesvorsitzender der Industriegewerkschaft Druck und Papier und ihrer Nachfolgerin, der IG Medien. Im Januar ist Franz Kersjes im Alter von 84 Jahren gestorben.

„Mein Weg“ – Einblicke in das zerstörte Köln

Seine Verweigerung gründete darin, dass er, 1938 geboren, die Schrecken des Krieges selber erfahren hatte. Ungezählte Male hatte er erlebt, dass die Südstadt, wo er aufwuchs, bombardiert wurde. „Viele Kriegseindrücke sind mir in grausamer Erinnerung geblieben“, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen „Mein Weg“. „Wie Fackeln brennende Menschen, verkohlte Leichen, schreiende Kinder, Nächte im Luftschutzkeller, Leben in Trümmern.“ Dazu kam im Juli 1944 die Nachricht, dass sein Vater, der vor dem Krieg als Buchhalter in der Schokoladenfabrik Stollwerck gearbeitet hatte, in Italien gefallen war.

Im geschundenen Köln begann für Franz Kersjes 1945 die Schulzeit. Oft traf er sich mit anderen Kindern zum Fußball. „In einer Mannschaft zu spielen, gemeinsam und solidarisch zu kämpfen, das war für mich eine wichtige Erfahrung.“ Nach der Realschule machte er eine Lehre zum Klischeeätzer. Arbeiter dieses Fachs hatten die Aufgabe, die vom Reproduktionsfotografen gelieferten Filme fototechnisch auf präparierte Zinkplatten zu kopieren und aus ihnen die nicht zu druckenden Teile mit Salpetersäure herauszuätzen. Das Arbeitsprodukt, Klischee genannt, diente als Druckstock.

Eintritt in die Gewerkschaft Deutscher Senefelder Bund (DSB) in Köln

Im großen Arbeitsraum diskutierten die Kollegen regelmäßig über politische und soziale Fragen, sprachen über persönliche Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Durch Zuhören konnte Kersjes viel dazulernen, zumal in der Schule die Nazizeit totgeschwiegen worden war. Und er erlebte großen kollegialen Zusammenhalt.

Er tat es den anderen nach und trat in die Gewerkschaft Deutscher Senefelder Bund (DSB) ein. Sie hatte einen starken Stand, denn die Facharbeiter im grafischen Gewebe, die sie vertrat, waren überaus gefragt und hatten gegenüber den Unternehmern entsprechend viel Macht. Nach der Lehre arbeitete Kersjes in mehreren grafischen Betrieben in Köln. Und er engagierte sich ehrenamtlich in verschiedenen gewerkschaftlichen Funktionen, seit 1965 als Mitglied der IG Druck und Papier.

Franz Kersjes und seine Frau Eufemia (Fe) Kersjes lächeln in die Kamera.

Franz Kersjes und seine Frau Eufemia (Fe) Kersjes.

Fünf Jahre zuvor hatte Kersjes geheiratet. Seine Frau Eufemia, genannt Fe, hatte er im Kirchenchor kennengelernt. „Die Liebe und Förderung, die wir unserer Kindheit entbehrt hatten, schien mir in einer Verbundenheit mit Fe Erfüllung zu finden“, heißt es in „Mein Weg“. Von 1961 bis 1969 kamen zwei Töchter und zwei Söhne zur Welt. Hatte das Ehepaar mit dem ersten Kind zunächst in so beengten Verhältnissen gelebt, dass Kersjes die Texte für die Gewerkschaftsarbeit im Badezimmer verfasste, mit der Schreibmaschine auf dem Klodeckel, so konnte die inzwischen um drei Kinder vergrößerte Familie 1975 in Seeberg in eine geräumige Vier-Zimmer-Wohnung einziehen.

Viel Arbeit und wenig Zeit für die Familie

1971 wurde Kersjes Sekretär beim Landesbezirksvorstand NRW der IG Druck und Papier und hatte fortan, als hauptberuflicher Gewerkschafter, wenig Zeit für die Familie. Er war insbesondere für die Bildungsarbeit zuständig und viel unterwegs, auch an den Wochenenden. Nach dem Amt gedrängt hatte er sich nicht. „Hierarchisches Denken war mir fremd. Und so habe ich nie eine bestimmte Position in unserer Gewerkschaft angestrebt und auch keine Mehrheiten für mich bei Wahlen organisiert. Jede Kandidatur beruhte auf der Aufforderung meiner Kollegen und Kolleginnen: Franz, du muss das machen!“

Franz Kersjes hat seine Enkel auf dem Arm und lächelt in die Kamera.

Franz Kersjes mit seinen Enkeln.

In einem Fall aber sagte Nein: Als ihm 1983 der Bundesvorsitz der IG Druck und Papier angetragen wurde, lehnte er ab, weil er seiner Familie nicht zumuten wollte, nach Stuttgart umzuziehen, wo die Zentrale ihren Sitz hatte. Was ihn in seiner Arbeit antrieb, war die Überzeugung, dass „Demokratie auch in die Betriebe gehört“. Die Beschäftigten müssten ein Mitspracherecht dabei haben, wie ihre Arbeitsergebnisse verwendet werden und was mit dem von ihnen erwirtschafteten Profit geschehe, sagte er.

„Ein fröhlicher Junge aus Köln“

Technische Innovationen führten in den 70er Jahren dazu, dass es immer weniger auf die handwerklichen Fähigkeiten der Facharbeiter im grafischen Gewerbe ankam. Die Beschäftigten, die früher so viel Macht gehabt hatten, mussten in der Druckindustrie um ihre Arbeitsplätze bangen. 1980 wurde Kersjes zum Vorsitzenden des NRW-Landesbezirksvorstands der IG Druck und Papier gewählt, die später in der IG Medien aufging.

Zunächst konnte er sich nicht vorstellen, „wie hart die sozialen Auseinandersetzungen in den Betrieben und in der Tarifpolitik werden würden“, schreibt er. Zur Fülle der Aufgaben gehörte, in den neuen privaten Rundfunkbetrieben gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen, Lobbyarbeit für Künstler und Künstlerinnen zu leisten und sich für ein besseres System der Theater-Förderung einzusetzen.

Günther Metzinger, ehemaliger Landesbezirksvorsitzender der IG Medien Nord, hat Kersjes als einen Kollegen in Erinnerung, der „ein fröhlicher Junge aus Köln sein konnte“ und „sehr kreativ gewesen“ sei; in Nordrhein-Westfalen habe er Neuerungen eingeführt, die dann vom Hauptvorstand in Stuttgart übernommen worden seien. Zu seinen Verdiensten zähle, dass sich die IG Medien stärker für freie Journalisten geöffnet habe.

Köln: Fernreisen, SPD und Ruhestand

Mehrmals besuchte Kersjes als Mitglied einer Delegation Moskau; andere Ziele waren zum Beispiel Kiew, Irkutsk, Washington, New York, Peking und Shanghai. Im Ruhestand reiste Kersjes zweimal im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung nach Ulaanbaatar, der Hauptstadt der Mongolei, um als Berater die Gestaltung eines demokratischen Mediengesetzes zu unterstützen. Schon 1966 war er in die SPD eingetreten; Sozialdemokraten wie Johannes Rau, Willy Brandt und Egon Bahr sowie die Kölner Politiker Theo Burauen und Norbert Burger waren ihm Vorbilder.

Fe und Franz Kersjes halten ihr erstes Kind im Arm.

Fe und Franz Kersjes mit ihrem ersten Kind.

Als die IG Medien 2001 in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, kurz Verdi, aufging, wurde Kersjes Rentner. Nun hatte er Zeit, sich stärker der Familie zu widmen. „Früher war er häufig nicht da, und zu Hause wollte er seine Ruhe haben“, sagt Tochter Brigitte Jünger. „Das hatte seine guten Gründe, aber wir hätten uns gewünscht, dass er öfter in der Familie der 'Gewerkschafter' gewesen wäre, der vermittelte und nach Lösungen suchte.“ Ernste Probleme seien daraus aber nicht entstanden: „Wir waren gut miteinander.“

„Er hat nicht damit gehadert, dass das Leben zu Ende geht“
Brigitte Jünger, Tochter

Im Ruhestand hatte Kersjes auch mehr Zeit, klassische Musik, Jazz und Chansons zu hören, und er entdeckte das Fitnessstudio für sich. Politisch interessiert und engagiert blieb er. Er trat als Redner bei Betriebsversammlungen auf, schrieb Online-Artikel zum Thema Arbeit und unterstützte die Ziele von Attac, Greenpeace und Amnesty International. Seine Bilanz der Digitalisierung fiel ernüchternd aus: „Es gibt keine Druckindustrie mehr. Die Produktion wurde durch die Möglichkeiten des Internets abgelöst. Und unsere gewerkschaftlichen Erfolge der Vergangenheit konnten nicht fortgesetzt werden“, resümierte er.

„Viele Menschen haben ständig Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, verzichten auf Widerstand und unterwerfen sich den jeweiligen Bedingungen der herrschenden Eliten.“ Aus seiner Sicht hatte das Kapital eine erdrückende Übermacht gewonnen. „Zuletzt war er frustriert, wenn er auf die Gegenwart blickte“, so Tochter Brigitte. „Wir sind ja weit entfernt von vielen Idealen, für die er gekämpft hat.“ Der Ukraine-Krieg habe ihn erschüttert.

Mit der persönlichen Bilanz konnte Kersjes, der sich seit Mitte 2022 häufig kraftlos fühlte, allerdings zufrieden sein. „Er hat sich mit dem Gedanken ans Sterben angefreundet“, sagt Brigitte Jünger. „Er hat nicht damit gehadert, dass das Leben zu Ende geht.“