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Spurensuche auf MelatenWie Kölner den Zweiten Weltkrieg in Gräbern überlebten

Lesezeit 5 Minuten
Grab Betzler 1

Diese Kapelle der Familie Otto Betzler auf Melaten nahm Heinrich Böll als Vorlage für einen Roman

Köln„Keine Streife hat sich in die Grüfte getraut,und wir lebten da tageweise wie in einer Idylle,nichts zu hören, nichts zu sehen.“Heinrich Böll in „Gruppenbild mit Dame“Der alliierte Bombenangriff, der große Teile von Ehrenfeld und Lindenthal in Schutt und Asche legen wird, kündigt sich am Abend des 30. Oktober 1944 um 20.30 Uhr mit einem Sirenenalarm an. Fast eintausend Bomber fliegen in den nächsten beiden Stunden über Köln hinweg, sie werfen 4000 Spreng- und 200.000 Brandbomben vor allem über den westlichen Stadtteilen ab. Es ist der verheerendste der insgesamt 262 Luftangriffe auf Köln während des Zweiten Weltkriegs.

Kölner Melaten-Friedhof wird im Oktober 1944 verwüstet

Fast 5000 Wohnhäuser werden zerstört. Auch Melaten wird regelrecht verwüstet. Und doch hat der Friedhof in jener Nacht möglicherweise einigen Menschen das Leben gerettet. „Es war damals in der Nachbarschaft bekannt“, erzählt eine alteingesessene Ehrenfelderin, „dass sich in den großen Familiengruften entlang der Millionenallee Juden versteckt hielten.“ Im Schutz der Dunkelheit hätten Anwohner sie mit Lebensmitteln versorgt. Ob und wie viele Menschen auch die dramatische Bombennacht im Oktober 1944 auf Melaten erlebt und überlebt haben, ist nicht überliefert.

Inwieweit Gruften und Gräber auf Melaten im Krieg als Zuflucht vor Bombenangriffen und Verhaftungen durch die Gestapo dienten, ist wissenschaftlich nie erforscht worden. Aufzeichnungen oder Tagebucheinträge sind nicht bekannt, Schilderungen von direkt Betroffenen sind heute wohl nicht mehr zu bekommen. Aber wer sich genau umhört, stößt auf Hinweise und Zeugenberichte aus zweiter Hand, die darauf hindeuten, dass während des Zweiten Weltkriegs tatsächlich Verfolgte auf Melaten untergetaucht sind. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat sich auf Spurensuche begeben.

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Heinrich Böll nutzt Kölner Gruft auf Melaten als Romanvorlage

Das silberfarbene Kreuz auf der 1913 erbauten Grabkapelle an der „Millionenallee“ von Melaten glänzt in der Vormittagssonne. „Familie Otto Betzler“ steht über der bronzenen Tür, die von kunstvoll verzierten Säulen umrahmt ist. In der Giebelspitze prangt das Relief eines Totenkopfes. Heinrich Böll hat dieses Mausoleum nahe der Oskar-Jäger-Straße im Jahr 1971 als Vorlage für sein Werk „Gruppenbild mit Dame“ gewählt. Nur nennt er die Familie in dem Roman nicht „Betzler“, sondern „Beauchamps“. Seine Hauptfiguren lässt der Kölner Nobelpreisträger unter der Kapelle sowie in zwei anderen Grüften auf Melaten für mehrere Tage im Frühjahr 1945 untertauchen.

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Fand Heinrich Böll 1944 für eine Nacht Unterschlupf in dieser Kapelle?

„Das waren doch insgesamt vier pulvertrockene, sauber ausgemauerte Kammern, immerhin zwei mal zweieinhalb, eine regelrechte Vierzimmerwohnung“, schreibt Böll. Ausführlich beschreibt er, wie seine Protagonisten es sich in ihrem unterirdischen Versteck eingerichtet haben. Die nicht belegten Grabkammern etwa seien die „idealen Vorratskammern“ gewesen: „Stroh rein, Matratzen rein und für alle Fälle noch ein kleines Kanonenöfchen“.

Hielt auch Heinrich Böll sich eine Nacht auf Melaten versteckt?

Ist das die pure Fantasie eines Schriftstellers? Oder hat Heinrich Böll hier möglicherweise eigene Erfahrungen wiedergegeben? Dass sein Vater sich im Krieg selbst auf Melaten versteckt haben könnte, davon höre er zum ersten Mal, antwortet sein Sohn René Böll auf Anfrage in einer Mail. Auch im Heinrich-Böll-Archiv in Köln, einer Dokumentations- und Informationsstelle über das Leben und Werk des Autors, weiß man davon nichts.

Johannes Ralf Beines hingegen, ehemaliger Denkmalpfleger beim Kölner Stadtkonservator und intimer Melaten-Kenner, erinnert sich im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, Böll selbst habe ihm einmal berichtet, im Oktober 1944 eine Nacht auf Melaten verbracht zu haben, in eben jener Gruft der Familie Otto Betzler. „Böll erzählte mir, das sei ein spontaner Entschluss gewesen, weil er von einem Freund die Nachricht erhalten hätte, dass zu Hause die Gestapo auf ihn warten würde“, sagt Beines. Die genauen Hintergründe bleiben gleichwohl im Unklaren.

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Der erfahrene Stadtführer Günter Leitner berichtet, immer wieder erzählten ihm Menschen bei Besuchen auf Melaten, dass sich auf dem Friedhof während des Krieges Juden vor den Nazis versteckt hätten – zum Beispiel in der Gruft der Bankiersfamilie Deichmann an der „Millionenallee“. Überprüfen lässt sich das heute nicht mehr. Aber der ehemalige Denkmalpfleger Johannes Ralf Beines, der ebenfalls Jahrzehnte lang Besuchergruppen über Melaten geführt und ein Buch über den Friedhof geschrieben hat, hält das für gut möglich: „In der Deichmann-Gruft wurde schon damals nicht mehr bestattet, das war daher gewissermaßen ein heißer Tipp.“

Friedhofsmitarbeiter kannten geeignete Unterschlüpfe

Melaten, sagt Beines, sei ein begehrtes Versteck während des Kriegs gewesen, ein idealer Unterschlupf für viele, die von den Schergen der Nazis bedrängt wurden. Juden seien darunter gewesen, aber auch Widerstandskämpfer und Bürgerliche aus Lindenthal. Manche Friedhofsmitarbeiter hätten den Verfolgten geeignete Verstecke gezeigt, auch wenn sie sich damit selbst erheblich in Gefahr brachten. „Aber die wussten schließlich, wo an welchem Tag eine Bestattung stattfindet, vor allem aber: wo nicht. Das waren dann die sicheren Verstecke.“

Wohl Hunderte suchten Schutz für eine oder wenige Nächte

Insbesondere nach dem Bombenangriff im Oktober 1944 sei Ehrenfeld eine einzige Trümmerwüste gewesen, auf dem Friedhof entlang der Hauptachse zwischen Piusstraße und Oskar-Jäger-Straße seien fast alle großen Grüfte schwer beschädigt gewesen, schildert Kunsthistoriker Beines. „Man konnte dort problemlos ein- und aussteigen.“ Seinen Schätzungen zufolge haben ungefähr insgesamt 300 bis 400 Menschen während des Krieges Unterschlupf auf Melaten gefunden, die meisten nur für eine oder wenige Nächte. „Man muss sich klarmachen, dass man im Chaos der damaligen Zeit morgens oft nicht wusste, was abends sein wird, und jeden Tag haben auch die Helfer neu überlegt: Wo bringen wir die bedrängten Leute heute unter?“

Ob sich auch auf anderen Kölner Friedhöfen Menschen vor den Bomben und den Nationalsozialisten in Sicherheit brachten, ist ungewiss – unwahrscheinlich ist es nicht, auch in anderen Städten waren Friedhöfe als Notlösungen für Übernachtungen bekannt. In Berlin etwa gab es unter dem Mausoleum des Kammersängers Joseph Schwarz auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee eine Glasplatte – sie war zugleich die Öffnung zu einem geheimen Schlafplatz.