Köln – Seit Anfang Juni wird die Inzidenz in Köln massiv unterschätzt. Das zeigen Abwasserdaten der Stadt, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegen. Die Daten deuten darauf hin, dass die Meldeinzidenz das tatsächliche Infektionsgeschehen mindestens doppelt so deutlich unterschätzt wie in den vergangenen Monaten.
Seit Ende Oktober entnimmt die Stadt der Kläranlage in Stammheim pro Woche zweimal hundert Milliliter Abwasser. Ein spezialisiertes Wasserlabor in Karlsruhe wertet die Proben mit Hilfe von PCR-Tests aus. Dabei konnte bis Anfang Juni ein erkennbarer Zusammenhang zwischen Inzidenz und Viruslast im Abwasser festgestellt werden – wenn auch teilweise mit zeitlicher Verzögerung. So war der gemeldete Inzidenzwert in der Regel etwa doppelt so hoch wie die gemessenen Biomarker pro Milliliter Abwasser.
In den vergangenen Wochen stieg die Viruslast im Abwasser massiv an, vervierfachte sich liegt nun auf dem Niveau von Mitte März – die gemeldete Inzidenz lag damals bei rund 2000. Es ist davon auszugehen, dass unter denselben Testbedingungen zum jetzigen Zeitpunkt eine ähnliche Inzidenz erfasst werden würde. Hinzu kommen viele Fälle, die auch in der Vergangenheit im Bereich der Dunkelziffer lagen. „Die Abwasseranalyse ist ein Frühwarnsystem. Es korrelierte mit etwas Verzögerung stets mit der Meldeinzidenz“, sagt Johannes Nießen, Leiter des Gesundheitsamtes, im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Seit Anfang Juni gibt es diese Korrelation nicht mehr.“ Der inzwischen wieder leicht sinkende Wert der Viruslast im Abwasser deute andererseits darauf hin, dass die Sommerwelle nun langsam zum Erliegen komme, so der Mediziner.
Meldeinzidenz nur ein Bruchteil der tatsächlichen Corona-Infektionen
Die Daten legen nahe, dass die aktuelle Meldeinzidenz nur einen Bruchteil der tatsächlichen Infektionen darstellt. „Ich bin Praktiker, kein Statistiker. Was ich aber klar sagen kann: Die Inzidenz erfasst einen deutlich kleineren Anteil der Infektionen als noch vor einigen Monaten“, so Nießen weiter. Die Gründe dafür sieht Nießen primär im veränderten Testverhalten. „Viele Menschen machen nach einem positiven Schnelltest keinen PCR-Test mehr und werden auch nicht als infiziert erfasst“, so der Mediziner. Es gebe eine gewisse Testmüdigkeit. „Durch die weitestgehende Abschaffung der kostenlosen Bürgertests wird diese Müdigkeit weiter begünstigt.“ Gab es in der vergangenen Woche noch 30 000 Tests pro Tag, waren am Donnerstag der laufenden Woche nur noch 13.000 Tests. „Die Zahl bricht gerade ein“, so Nießen.
Er ist begeistert von den Abwassermessungen. „Man kann unterirdisch frühzeitig mehr wissen als oberirdisch bekannt ist, ich finde das faszinierend“, sagt er. „Im Krisenstab haben wir dank der Abwasserdaten schon in den vergangenen Monaten besonders frühzeitig sehen können, in welche Richtung die Entwicklung geht und konnten Entscheidungen dadurch besser vorbereiten.“
Köln nimmt gemeinsam mit 20 weiteren deutschen Städten seit Oktober 2021 an einem Pilotprojekt teil, das von der EU gefördert wird. Im Februar 2023 läuft das Projekt aus, Nießen rechnet jedoch fest mit einer Fortsetzung und Ausweitung. Offenbar plant das Bundesgesundheitsministerium sogar, das Projekt noch vor dem Ende der Pilotphase größer aufzuziehen. In anderen Ländern wie den Niederlanden, Belgien oder Italien ist die Abwasseranalyse längst erprobte Praxis.
Auch die Viruslast durch Influenza und Polio soll erfasst werden
Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Methode hängt nicht ab von wechselhaften Bereitschaft der Bevölkerung ab, sich testen zu lassen. Außerdem gibt es bei der Erfassung der Viruslast keinerlei datenschutzrechtliche Probleme oder Bedenken. Ein anonymisierter „Corona-Test beim Toilettengang“, dafür entscheide man sich automatisch. „Die Pool-Testung gibt die Gesamtlage präziser wieder als das, was wir in den Testzentren erfassen“, sagt Nießen. Es gibt jedoch noch einige Unklarheiten: Inzidenz-Sprünge waren bei der Delta-Variante über das Abwasser etwa früher zu erkennen als Anstiege bei Omikron. Doch Nießen ist überzeigt: „Das ist eine Methode, die Zukunft haben wird.“
Künftig will man im Gesundheitsamt auch die Viruslast durch Influenza und Polio über Abwasser erfassen, vorbereitende Gespräche dazu laufen bereits. Auch bei den sich verbreitenden Affenpocken könnten Abwasserwerte noch wichtig werden. „Ob die Affenpocken im Abwasser nachweisbar sind, wissen wir nicht. Einige Viren zerfallen im Abwasser auch vollständig, dann ist diese Methode keine Option. Das müssen wir noch abwarten“, so Nießen.