Der Kölner Mediziner Christian Karagiannidis mahnt außerdem dringende Reformen an, etwa eine Selbstbeteiligung bei der Krankenversicherung.
Experte Karagiannidis„Köln ist eine mit Krankenhäusern überversorgte Region“

Das städtische Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße soll in den kommenden Jahren geschlossen werden, ein Ersatzneubau in Merheim entstehen.
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Deutschland hat im europäischen Vergleich das teuerste Gesundheitssystem (die Gesundheitsausgaben betragen 12,8 Prozent des Bruttoinlandproduktes, Tendenz stark steigend), die meisten Krankenhausbetten (58 je 10.000 Einwohner) und verzeichnet die meisten Krankenhausaufenthalte (213 pro 1000 Einwohner) sowie Arztbesuche (9,4 pro Einwohner) pro Jahr. Doch dem System stehe eine Zeitenwende bevor, sagen die drei Gesundheits-Experten Christian Karagiannidis, Boris Augurzky und Mark Dominik Alscher.
Deshalb haben sie ein Buch geschrieben, das am Montag erschienen ist. Darin schildern sie anschaulich und anhand vieler Grafiken die Probleme und zeigen mögliche Wege auf, das deutsche Gesundheitssystem zu reformieren. Karagiannidis ist Lungenspezialist der Kliniken der Stadt Köln am Standort Merheim und seit der Corona-Pandemie bei der Bundesregierung als Experte gefragt. Wir haben mit ihm gesprochen.
Herr Professor Karagiannidis, den Eckdaten unseres Gesundheitssystems nach zu urteilen, müssten wir alle kerngesund und topfit sein, oder?
Christian Karagiannidis: Ja, aber so ist es nicht. Wir setzen in Deutschland sehr auf Reparaturbetrieb und wenig auf Prävention, das ist eine der großen Grundkrankheiten unseres Systems.
Was die Lebenserwartung angeht, liegen wir in Deutschland unter dem EU-Durchschnitt. Und wir verbringen im Schnitt nur 61 Lebensjahre ohne wesentliche gesundheitliche Einschränkungen. So toll scheint unser System also gar nicht zu sein.
Wir haben eine deutliche Übersterblichkeit durch Alkohol in Deutschland, das ist mehr als in den südeuropäischen Ländern. Dazu kommt der Tabakkonsum. Das sind zwei Haupttreiber für Krankheiten und Todesfälle. Deshalb: Wir müssen die Prävention in Deutschland stärken. Aber das funktioniert nur, wenn man es irgendwie ökonomisch koppelt.
Prävention durch höhere Steuern auf Alkohol, Zucker und Tabak
Über Steuern?
Ja. Das ist ein dringender Appell an die Politik: Man muss Alkohol-, Zucker- und Tabaksteuern jetzt zu Beginn der neuen Legislaturperiode schlagartig erhöhen. Wir wissen, dass das funktioniert. Das Geld sollte man in die Pflegeversicherung stecken und nicht einfach im Bundeshaushalt versacken lassen. So würde eine Win-win-Situation entstehen: Entweder rauchen die Menschen weniger, dann hätten wir Prävention. Oder sie rauchen weiter, dann stärken wir die Pflegeversicherung.
Klingt so einfach.
Wir haben uns in den letzten 20 Jahren im Großen und Ganzen – abgesehen von der Krankenhausreform – immer auf die Formel geeinigt, mehr Geld ins System zu geben. Aber die Zeiten sind jetzt das erste Mal vorbei, die Kosten wachsen uns über den Kopf und es fehlt an Personal. Es muss sich etwas ändern im deutschen Gesundheitssystem.
Wir haben ein wahnsinnig hohes medizinisches Angebot
In Ihrem Buch machen Sie viele Reformvorschläge. Wo sehen Sie das Grundproblem?
Wir haben ein wahnsinnig hohes medizinisches Angebot, viel höher als im internationalen Vergleich. Und in der Gesundheitsbranche gilt: Je höher das Angebot, desto höher die Nachfrage. Das ist eines der großen Grundprobleme. Das wird in den nächsten Jahren voll durchschlagen auf die Lohnnebenkosten. Wir sind nicht effizient strukturiert.
Sie schreiben, ohne Reformen im Gesundheitswesen würden wir unsere Demokratie gefährden. Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?
Wir haben in Deutschland immer etwa 40 Prozent Lohnnebenkosten gehabt, schon damit sind wir ein wirklich teurer Produktionsstandort. Aber jetzt laufen alle Prognosemodelle auf mindestens 50 Prozent Lohnnebenkosten zu. Dann wird es maximal unattraktiv, in Deutschland noch irgendwas zu produzieren, vor allen Dingen sowas wie Autos. Es ist für unsere Demokratie aber enorm wichtig, dass wir in Deutschland wirtschaftlich wettbewerbsfähig bleiben und erfolgreich. Darauf gründet ja ein großer Teil unserer Gesellschaftsform. Und natürlich gehört zu einer Demokratie eine gut funktionierende medizinische Grundversorgung, vor allem ein gutes Hausarztsystem.
Zwölf Arztkontakte pro Einwohner pro Jahr – „utopisch viel“
In Deutschland werden europaweit nach der Schweiz die zweitmeisten Hüftgelenkimplantate vorgenommen. Unsere Arzneimittelkosten betrugen 2023 allein bei den gesetzlichen Kassen mehr als 50 Milliarden Euro. Der Ersatz einer Aortenklappe kostet 30.000 Euro. Leisten wir uns zu viel Medizin?
Die Preise für medizinische Leistungen liegen in Deutschland im europäischen Mittelfeld. Die extremen Kosten entstehen durch die unfassbar hohe Menge an Behandlungen. Wir haben mittlerweile im ambulanten Bereich durchschnittlich zwölf Arztkontakte pro Jahr pro Nase. Das ist utopisch viel. Davon müssen wir unbedingt runter. Dann würde das System schnell effizienter, allein weil wir wieder mehr Zeit für die richtig kranken Patienten hätten.
Wie könnten wir das erreichen?
Wir müssten ein Primärarztsystem umsetzen. International ist das längst üblich. Dabei ist der Hausarzt oder der Kinder- und Jugendarzt eine Art Gatekeeper, der die Patienten abschließend behandelt oder weiterleitet. Sie könnten nicht mehr einfach direkt zu einem Facharzt gehen. Wir haben da eine derartige Überinanspruchnahme, dass das sein muss. Viele Probleme können Hausärzte selbst lösen. Das funktioniert in den meisten Ländern der Welt, nur in Deutschland nicht.
Was noch?
Der zweite riesige Hebel, der politisch unattraktiv ist, wäre eine Selbstbeteiligung bei der Krankenversicherung.
Sie nennen das „Vollkasko mit Selbstbeteiligung“.
Genau, keine Teilkasko, sondern wirklich eine Vollkasko, aber eben mit Selbstbeteiligung. Die sollte in meinen Augen unbedingt sozial verträglich sein, sich also am Einkommen orientieren. Man zahlt jedes Jahr zunächst einen bestimmten Betrag für Gesundheitsleistungen selbst, und erst dann greift die Versicherung. Dann geht die Zahl derjenigen, die wegen Bagatellen zum Arzt oder in die Notaufnahme gehen, garantiert schlagartig runter. Diese Idee ist politisch nicht so einfach zu verkaufen, aber der Hebel wäre enorm.
Wie viel darf ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr kosten?
Sie schlagen vor, dass der gemeinsame Bundesausschuss definieren sollte, wie viel ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr kosten darf. Das hört sich unmenschlich an für denjenigen, der ein Jahr länger leben könnte und es nicht darf.
Die Engländer machen das seit 20 oder 30 Jahren. Die fragen immer, wie viel an qualitativ guten Lebensjahren eine Therapie bringt. Etwa eine Chemotherapie bei einer schweren Krebserkrankung, dann lebt man drei Monate länger und ist schwer belastet durch die Therapie, das bringt einem unterm Strich wenig. Wenn wir die Kosten irgendwie in den Griff kriegen wollen, müssen wir darauf gucken. Diese gesellschaftliche Diskussion muss jetzt beginnen, in wenigen Jahren ist es zu spät.
Wenn wir die Kosten in den Griff kriegen wollen, müssen wir Leute sterben lassen?
Nein, das müssen wir nicht. Wenn eine Therapie wirklich das Leben mit guter Lebensqualität verlängert, soll man sie natürlich auch immer bekommen. Deutschland wird immer genug Ressourcen für eine gute medizinische Versorgung haben. Da bin ich optimistisch.
„Köln ist eine überversorgte Region“
Wir haben rund 1700 Krankenhäuser in Deutschland, mehr als 30 allein in Köln. Ein Großteil dieser Krankenhäuser sei gar nicht an der Notfallversorgung beteiligt, schreiben Sie in Ihrem Buch. Müssen wir die Hälfte schließen?
Wir müssen zentralisieren, wir müssen zusammenlegen. Das ist das A und O, gerade in überversorgten Regionen wie in Köln. Das ist unbeliebt, aber das ist genau der Schlüssel. Wenn man drei oder vier kleine Krankenhäuser zusammenlegt zu einem Zentralklinikum, dann habe ich ein gut ausgestattetes Krankenhaus mit ausreichend Personal. In den kleinen Häusern allein habe ich das alles nicht.

Professor Christian Karagiannidis von den Kliniken der Stadt Köln.
Copyright: Marcus Simaitis
Die Stadt Köln macht genau das mit ihren Kliniken: Merheim, Holweide und die Kinderklinik Amsterdamer Straße werden am Standort in Merheim zusammengelegt. Sehen Sie das als Modellprojekt für den Rest des Landes?
Genau. Wir werden einen riesigen Synergieeffekt haben. Das ist eine Blaupause, insbesondere für Nordrhein-Westfalen, wo wir stark überversorgt sind. Aber auch für Bayern, wo es sehr viele kleine Krankenhäuser gibt.
Nach der Zusammenlegung bleiben immer noch rund 30 Krankenhäuser in Köln.
Die müssen den gleichen Weg gehen. Wir haben ja Strukturen, die das zulassen. Es gibt genug Rechtskonstrukte, zum Beispiel über gemeinsame Trägerschaften oder gar Stiftungen, die trägerübergreifende Zusammenschlüsse erlauben. Es braucht jetzt einfach den Mut, das zu machen, nur so kann man aus tiefroten Zahlen herauskommen.
Wettlauf bei der Analyse von Vitaldaten von Smartwatches
Sie prophezeien, dass KI künftig eine große Rolle spielen wird in der Medizin, und raten dazu, etwa die Daten von Smartwatches zur Herzinfarkt-Prognose zu nutzen. Dem steht der Datenschutz entgegen.
Wenn die KI unsere Vitaldaten analysieren würde, zum Beispiel über die Smartwatch, könnte sie feststellen, wenn etwas nicht stimmt, wenn sich so etwas wie ein Herzinfarkt ankündigt. Das wäre technisch machbar, dazu müsste man eine Menge Daten erheben und die KI trainieren. Da wird ein Wettlauf zwischen Europa, Amerika, China und Indien entstehen. Wer solche Systeme zuerst entwickelt, der generiert ein riesiges Wirtschaftswachstum in diesem Bereich. Das ist eine Goldgrube. Wir sollten voll auf diesen Zug aufspringen.
Die eigenen Smartwatch-Daten in ein großes System einspeisen – das weckt die Angst vor Überwachung.
Unsere Lebenserwartung in Deutschland ist mittlerweile unterdurchschnittlich. Wollen wir etwas dagegen tun, oder nicht? Wenn ja, müssen wir ein bisschen liberaler werden. Wenn wir einen Stau umfahren wollen, und wenn wir dabei auch nur eine Minute sparen, geben wir über unsere Handys metergenau unseren Standort preis. Wir stellen Google und Amazon und wem auch immer alles zur Verfügung, aber bei anonymisierten medizinischen Daten, die einen enormen Fortschritt bringen könnten, sagen wir Nein.
Wir haben jetzt auch erfahren, dass Sie und Ihre Mitautoren Ihre Kaffeetrink-Gewohnheiten ändern wollen. Wieso?
Jeder kann sich überlegen, was er selbst tun kann, um seine Lebenserwartung zu verlängern. Weniger rauchen gehört dazu, jede Zigarette kostet 20 Minuten Lebenszeit. Und wir haben uns die 10.000 Schritte pro Tag nochmal angeguckt. Das stimmt wirklich. Bewegung bringt uns wahnsinnig viel Gesundheit – das ist irre. Kaffee verringert zum einen die Wahrscheinlichkeit, dass man in eine depressive Stimmungslage gerät.
Dafür sollte man ein bis vier Tassen pro Tag trinken, nicht mehr. Und es scheint günstig zu sein, den Kaffee am Morgen zu trinken und nicht am Nachmittag. Das sind Dinge, die keine Nebenwirkungen haben: Nicht rauchen, 10.000 Schritte pro Tag gehen, maximal vier Tassen Kaffee pro Tag trinken. Alles, was so einfach ist, würde ich einfach mal machen.