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„Hier müssen wir um Verzeihung bitten“Kölner Gesundheitsamts-Leiter blickt auf Amtszeit während Pandemie zurück

Lesezeit 6 Minuten
Johannes Nießen leitet das Gesundheitsamt nur noch bis Ende der Woche.

Johannes Nießen leitet das Gesundheitsamt nur noch bis Ende der Woche.

Johannes Nießen wechselt den Job und verlässt das Gesundheitsamt Ende September. Im Interview blickt er zurück und spricht auch über Fehler.

Herr Nießen, mit welchen Zielen sind Sie im Sommer 2019 als Leiter des Gesundheitsamtes angetreten?

Das Gesundheitsamt in Köln ist das größte in Deutschland und der öffentliche Gesundheitsdienst hat dort eine besonders hohe Bedeutung. Der Schutz der vulnerablen Gruppen ist für uns in Köln ganz entscheidend: Der mobile medizinische Dienst, die medizinische Versorgung von Obdachlosen und Prostituierten, der Drogenkonsumraum, der anonyme Krankenschein, der Hitzeaktionsplan, aber eben auch die Pandemiebekämpfung sind dabei wichtige Bestandsteile. All das hat die Unterstützung von vulnerablen Gruppen zum Ziel, die mir besonders wichtig ist.

Ende 2019 wurde erstmals von einem Virus in China berichtet. Wie haben Sie das Stichwort Corona damals wahrgenommen?

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Als jemand, der verinnerlicht hat, dass Viren keine Grenzen kennen, hatte ich von Anfang an eine ernsthafte Sorge. Nach meinen Erfahrungen mit dem Kampf gegen das tödliche Ebola-Virus in Hamburg war ich mir früh sicher, dass das Thema Covid-19 nicht an den chinesischen Grenzen aufhört.

Wäre es damals noch möglich gewesen, die globale Pandemie zu vermeiden?

Wir haben in Deutschland insgesamt etwas zu lange gewartet, konnten die Schwere nicht einschätzen und haben relativ spät die ersten Maßnahmen ergriffen. Ich denke aber nicht, dass man eine globale Verbreitung gänzlich hätte vermeiden können. Auch Chinas zwischenzeitliche Zero-Covid-Strategie hat nicht zum Ziel geführt.

Hat sich die Stadt Köln schnell genug auf die Pandemie eingestellt?

In Köln hatten wir eine Phase des anfänglichen Zurechtfindens, die zu lange gedauert hat. Dann haben wir es aber, glaube ich, gut gemacht. Gemessen am Deutschlandschnitt hätten wir in Köln rund 1000 Corona-Tote mehr haben müssen. Dass es anders kam, hat auch mit der besonders engen Zusammenarbeit zwischen Feuerwehr, Kliniken und Gesundheitsamt zu tun. Und damit, dass wir ständig neue Mitarbeitende eingestellt haben, bis zu 60 pro Woche in Spitzenzeiten – obwohl wir nicht wussten, ob Bund oder Land das am Ende zahlen. Denn uns war es wichtig, die Kontaktnachverfolgung so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Wir haben uns ständig am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse orientiert. Das hat sich ausgezahlt, wie man auch an der vergleichsweise geringen Sterberate in Köln erkennt.

Erinnern Sie sich noch an den ersten Corona-Fall in Köln?

Am 28. Februar 2020 rief mich ein Internist an, der eine junge Patientin mit Erkältungssymptomen, Fieber und einem positiven Corona-Test hatte. Wir mussten damit sofort umgehen. Gleichzeitig haben wir uns dazu entschieden, direkt die Bevölkerung zu informieren, und haben eine klare, offensive Kommunikationsstrategie eingeschlagen. Diese Strategie haben wir über die gesamte Dauer der Pandemie beibehalten.

Wie viel haben Sie in dieser Nacht geschlafen?

Ich habe nicht viel und auch unruhig geschlafen. Ich wusste sofort: Das Thema Corona hat jetzt eine ziemliche Dimension, ich war voller Sorge. Es war ein Abend mit vielen, vielen Telefonaten, an dessen Ende ich den Hausmeister des Gesundheitsamtes um eine Matratze gebeten habe. Die hat er mir dann gebracht und ich konnte mich ein paar Stunden im Gesundheitsamt hinlegen, bevor es weiterging. Am nächsten Morgen brachte er mir noch zwei Käsebrötchen.

Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft hat sich in der Pandemie verändert.

So ist es, wir hatten 81 Millionen Corona-Experten. Politik und Wissenschaft sind näher zusammengerückt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind ernstgenommen worden. Es ist gesamtgesellschaftlich besser verstanden worden, wie wissenschaftliche Arbeit funktioniert. Wie Ansteckungswege funktionieren, war allen schnell bewusst – das war ein großer Erfolg. Auch, wenn das sehr diskussionsfreudige Agieren im deutschen Föderalismus manchmal nicht ganz zielorientiert war.

Es hatte eine gewisse Komik, wenn von Stadtgrenze zu Stadtgrenze völlig unterschiedliche Regeln galten. Oder wenn man morgens statt des Wetters die Routine entwickelt hat, den aktuellen Inzidenzwert nachzuschauen. An welchen Stellen mussten Sie in der Pandemie lachen?

(Überlegt lange) Es gab wirklich nicht viel zu lachen; manche Ideen von Menschen, die diese Pandemie einfach nicht wahrhaben wollten, haben mich irritiert, aber auch das war nicht lustig. Wir mussten uns immer wieder die Frage stellen, ob das, was wir machen, richtig ist. Ich bin selbst nachdenklich geworden und habe mir vor Augen geführt: Doch, diese Maßnahme ist wissenschaftlich abgestimmt, wir wissen, dass sie hilft. Auch, wenn sie vielleicht kurios anmutet.


Johannes Nießen hat das Kölner Gesundheitsamt seit Juli 2019 geleitet. Ursprünglich hatte er geplant, das Amt bis zum kommenden Frühjahr fortzuführen und anschließend in den Ruhestand zu gehen. Der promovierte Mediziner war von 1988 bis 1995 am Bonner Gesundheitsamt tätig und spezialisierte sich auf die Viruserkrankung der 1980er-Jahre: AIDS. Es folgte fast ein Vierteljahrhundert in Hamburg, wo er verschiedene Gesundheitsämter leitete und zum Spezialist für unterschiedlichste Themen wurde, von der Suchthilfe bis zur medizinischen Betreuung Geflüchteter. Auch hier hat Nießen in einer Krisenlage Verantwortung übernommen, für seine Konzepte zur Versorgung der geflüchteten Menschen, die 2015 in Hamburg ankamen, wurde er mit einem wichtigen Innovationspreis ausgezeichnet.


Der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn hat früh in der Pandemie den Satz geprägt, man werde sich viel verzeihen müssen. Was fällt für Sie unter diese Kategorie?

Dass die älteren Menschen im Heim oder im Krankenhaus alleine gestorben sind. Das ist nicht in Ordnung gewesen, hier müssen wir um Verzeihung bitten. Das andere sind Kinder, die psychosoziale Probleme und Übergewicht haben, hier sind Defizite entstanden, weil wir in Deutschland die Kinder zu lange alleine zu Hause gelassen haben. Das sind zwei Dinge, die ich im Nachhinein als Fehler benennen würde.

Und bei Ihnen persönlich?

Wir haben 2000 abgelaufene Impfdosen spritzen lassen. Dafür entschuldige ich mich nochmal, das war ein Fehler, der nicht hätte passieren sollen. Entscheidend war aus meiner Sicht aber die Reaktion auf diesen Fehler: Wir haben schnell die Ursache gefunden und reagiert und allen Betroffenen sofort Neuimpfungen angeboten. Das war wichtig

Hatten Sie Angst, Fehler zu machen? Der Blick war in der Pandemie fast ausschließlich auf das gerichtet, was schlecht lief.

Angst ist ein ganz schlechter Ratgeber. Probleme konkret erkennen und lösen – das war und ist ein Grundparadigma, das meine Arbeit bestimmt. Es klingt ziemlich banal, aber es ist nicht immer einfach. Probleme sollte man nicht kleinreden.

Hatten Sie selbst je Angst vor dem Virus?

Nein, vor der Infektion selbst nicht. Die Erkrankung war dann aber heftig, so schlimm war ich seit meiner Kindheit nie erkrankt – und dann hat Ingo Zamperoni angerufen und wollte, dass ich in den Tagesthemen die Corona-Lage einschätze. Das ging leider nicht.

Sie wollten ursprünglich im Frühjahr in den Ruhestand gehen. Warum verabschieden Sie sich nun schon Ende September?

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat mich davon überzeugt, das, was wir in Köln gemacht haben, bundesweit auszurollen, als Errichtungsbeauftragter des Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit, das gerade entsteht. Es ist die Nachfolgeorganisation der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, in der Kampagnen wie „Keine Macht den Drogen“, „Kenn dein Limit“, „Mich juckt’s im Schritt“ und „Deutschland sucht den Impfpass“ entstanden sind. Wir wollen aktuelle gesundheitliche Themen noch intensiver aufklären.

Lauterbach hat Sie zuletzt den „Mannschaftskapitän der Gesundheitsamtsleiter“ genannt. Was sind Sie dann künftig?

Ich bin ein Supporter, wenn Sie so wollen. Mit viel Engagement versuche ich, von der Seite aus zu unterstützen. Der Kontakt zu den Gesundheitsämtern wird nicht abreißen, ich möchte weiter wissen, was in Köln und anderswo passiert.