Derzeit sterben in Deutschland knapp 600 Menschen pro Tag im Zusammenhang mit Corona. Wie würden Sie die Lage beschreiben?Prof. Oliver Cornely: Es ist nicht kurz vor zwölf, es ist nach zwölf. Wenn der Einzelne durch Abstandsregeln seine Freiheit eingeschränkt sieht, muss man entgegnen: Die eigene Freiheit hört dort auf, wo die eines anderen beginnt. Die Freiheit dieser 600 Menschen, ihrer Familien und Angehörigen wurden hier keineswegs berücksichtigt. Freiheit ist ohne klare Regeln nicht möglich, das sagt mir diese schreckliche Zahl.
Das RKI meldet knapp 30.000 Neuinfektionen pro Tag. Ist die Nachverfolgung der Infektionsketten nicht mehr denkbar, bis die flächendeckenden Impfungen beginnen?
Ich denke sehr wohl, dass eine Trendumkehr noch möglich ist. Wir können aus Frankreich, wo es vor einigen Wochen einen Lockdown gab, sehen, wie tief man die Zahlen mit harten Maßnahmen bekommt. Wichtig ist: Ein Lockdown darf nicht halbherzig sein. Die Regeln müssen klar und verständlich sein, sonst können sie nicht befolgt werden.
Worauf zielen Sie ab?
Wir brauchen eine Maskenpflicht, die überall gilt und konsequent kontrolliert wird. Wer keine Maske trägt, muss eine Geldstrafe zahlen. Wir haben derzeit eine schreckliche epidemiologische Lage und keine gute Messbarkeit der Einzelmaßnahmen. Anders gesagt: Wir wissen nicht, welches Nachlassen wir uns leisten können. Deswegen braucht es beim Thema Maske mehr konsequentes Handeln.
Was fordern Sie darüber hinaus?
Dass jeder Einzelne bewusst Verantwortung übernimmt und nicht bloß die Regeln befolgt. Jeder kann mehr tun, als er tun muss: Kontakte weiter reduzieren, FFP2-Masken kaufen und sie überall tragen. Das scheint trivial, ist aber aus meiner Sicht derzeit noch wichtiger als die politischen Maßnahmen. Wir sind in einer Situation, in der jeder einen Unterschied macht – nicht bloß symbolisch, sondern medizinisch und real.
Doch auch politische Entscheidungen wirken sich aus. Kommt der von Armin Laschet angekündigte Lockdown zu spät?
Wenn wir zurückblicken, sehen wir: Im März hat die Politik bei niedrigeren Zahlen präventiv gehandelt. Das hat sich ausgezahlt. Heute kann man davon nicht sprechen. Die scharfen Maßnahmen kommen sicher nicht zum idealen Zeitpunkt, den haben wir an irgendeinem Punkt verpasst, wie wir heute wissen. Doch zu spät ist es nie, auch diesmal nicht.
Zur Person
Professor Oliver Cornely, geboren 1967, ist Direktor des Lehrstuhls für Translationale Forschung am interdisziplinären Altersforschungszentrum „Cecad“ der Universität zu Köln. Cornely leitet das Zentrum für Klinische Studien und ist Oberarzt in der Infektiologie der Uniklinik Köln.
Wir müssen jetzt etwas tun, das ist wissenschaftlich evident und es wird politisch anerkannt. In den kommenden zwei Wochen werden wir steigende Todeszahlen haben, egal was beschlossen wird. Doch was danach passiert, können Politik und Gesellschaft durch ihr Handeln unmittelbar beeinflussen.
Die Schulpflicht wird nun ausgesetzt, die Schulen bleiben aber offen. Ist das halbherzig?
Ich denke, dass man Schulschließungen so lange vermeiden sollte, wie es irgendwie geht. Denn an dieser Stelle ist die Datenlage bislang dünn – und das Tragen der Masken kann in Schulen kontrolliert werden. Außerhalb der Schulen ist hingegen unklar, wo sich die Schüler aufhalten würden und ob sie dort eine Maske tragen.
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Wir beobachten in einzelnen Studien, dass es Schulen schaffen können, Infektionsketten effektiv zu verhindern. Dass Schulen offen bleiben, halte ich medizinisch derzeit für vertretbar. Die Regeln für ihren Betrieb müssen allerdings klarer und konsequenter werden. Jede Lehrerin und jeder Schüler sollte eine FFP2-Maske bekommen.