Innenstadt – 350 Millionen DIN-A4-Seiten: Wer um Himmels willen sollte das alles lesen können, im Zusammenhang erfassen, auswerten? Niemals zu schaffen, sagt ein Ermittler, der sich mit dem Einsturz des Stadtarchivs befasst. Das Material, das bei Firmendurchsuchungen auf Festplatten, elektronischen Speichern und in Aktenordnern sichergestellt worden ist, umfasst die gewaltige Datenmenge von 7,5 Terabyte. Oder anders ausgedrückt: Mit dem zu sichtenden Inhalt ließen sich 175 000 Bücher füllen, die jeweils so dick sind wie die Bibel.
Vier Jahre nach dem Einsturz befindet sich die Suche nach der Ursache und den Verantwortlichen noch immer am Anfang. Zwei junge Männer sind in den Trümmern ums Leben gekommen, der Sachschaden wird auf eine Milliarde Euro geschätzt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung und Baugefährdung, nach wie vor gegen unbekannt. Es lässt sich kaum absehen, wann die Strafverfolger Anklage erheben oder aber ihre Untersuchung einstellen werden.
Als unverzichtbares Werkzeug dient der Ermittlungsgruppe Severin ein Computerprogramm, das weltweit von Nachrichtendiensten, Sicherheitskräften und Justizbehörden genutzt wird - und das nach dem Unglück am Waidmarkt erstmals in Köln zum Einsatz gekommen ist.
Die von dem Unternehmen Zylab in den Niederlanden entwickelte Software wurde Oberstaatsanwalt Torsten Elschenbroich und seiner Mannschaft vom Landeskriminalamt zur Verfügung gestellt. Das Programm erfüllt im Wesentlichen die Aufgabe einer äußerst genauen Suchmaschine. Zunächst fischt das System aus der Datenflut jene Dokumente heraus, die für die juristische Aufarbeitung des Unglücks von Bedeutung sein könnten; jede noch so gut verborgene Datei wird aufgespürt. Zugleich verwaltet das Programm die Unterlagen und ermöglicht allen an einem Verfahren Beteiligten Einblick in die virtuellen Akten.
Zu den Abnehmern zählten das Zollkriminalamt, New Scotland Yard und das FBI, sagt Claus Blank, Verkaufsmanager von Zylab im deutschsprachigen Raum. Das Weiße Haus in Washington nutze die Software, um den gesamten E-Mail-Verkehr der Beschäftigten zu sichern. Beim UN-Kriegsverbrecher-Tribunal gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic seien die in Frage kommenden Unterlagen ebenfalls mit der Spezialsoftware verwaltet worden.
Das Programm kostet in seiner einfachsten Ausführung rund 100 000 Euro. Je nach Leistung zahlen Kunden wesentlich mehr. Der Einsatz in Köln zeugt davon, welches Ausmaß die juristische Aufarbeitung des Archiveinsturzes haben wird. Die Mehrzahl der Gutachter nimmt an, dass den am U-Bahn-Bau beteiligten Firmen unter Federführung von Bilfinger Berger beim Bau einer unterirdischen Schutzwand ein Fehler unterlaufen sein könnte. Bis Frühjahr 2014 soll ein Besichtigungsschacht errichtet werden, von dem aus die Ermittler die in 30 Metern Tiefe vermutete Schadensstelle betrachten wollen. Die von den Baufirmen beauftragten Sachverständigen gehen dagegen von einem Grundbruch aus, einem nicht vorherzusehenden Naturereignis.
Die Ursache herauszufinden, ist nur der erste Schritt. Die Frage einer strafrechtlichen Schuld wird damit noch nicht beantwortet sein. Sollte es zu einer Anklage kommen, dürfte der Prozess Jahre dauern. Eine zeitliche Begrenzung gibt es nicht. Indes könnte eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2003 zumindest als Anhaltpunkt dienen: Eine Verfahrensdauer von siebeneinhalb Jahren sei "unangemessen lang" für einen Strafprozess. Diese Zeitspanne sei "auch nicht durch Umfang oder besondere Schwierigkeit der Sache zu rechtfertigen".
"Das wird ein Gutachterkrieg", sagt ein Jurist der Stadtverwaltung. Die Kommune hat durch das Unglück einen enormen finanziellen Schaden erlitten. 400 Millionen Euro wird die Wiederherstellung des beschädigten Archivmaterials kosten. Für den Bau des neuen Archivs am Eifelwall sind mehr als 80 Millionen Euro vorgesehen. Das Bergen und Sichern verschütteter Dokumente, das Errichten des Besichtigungsschachts, die Entschädigung von Anwohnern sowie etliche weitere Posten machen einen dreistelligen Millionenbetrag aus.
Die Stadt hat beim Landgericht gegen insgesamt 21 am U-Bahn-Bau beteiligte Personen und Firmen ein selbstständiges Beweisverfahren beantragt. Sie alle kommen "ernsthaft als Verursacher" des Archiveinsturzes in Betracht, heißt es im Rathaus. Stadtdirektor Guido Kahlen hat damit erreicht, dass die Ansprüche auf Schadensersatz nicht verjähren. Dafür nimmt er in Kauf, dass sich das zivilrechtliche Verfahren hinziehen könnte, denn die Antragsgegner dürfen allesamt Einsicht in die Gerichtsakten nehmen, um sich über den Stand zu informieren. Ein weiteres Risiko: Unternehmen, die von der Stadt zu Unrecht belangt worden sind, können eine Erstattung ihrer Kosten verlangen. Wegen der hohen Streitsummen kann jeder einzelnen Firma ein Anspruch bis zu 540 000 Euro entstehen.
Die Ergebnisse des selbstständigen Beweisverfahrens dienen dem Gericht in einem späteren Schadensersatzprozess als Entscheidungsgrundlage. Wann eine Zivilkammer die Hauptverhandlung eröffnet, ist ebenso ungewiss wie die Prozessdauer. Ein erfahrener Richter will allenfalls hinter vorgehaltener Hand spekulieren: "Fünf Jahre, das wäre mal eine Hausnummer."
Es geht um enorme Summen, und es geht um den Ruf bekannter Unternehmen. Die Baukonzerne und deren Versicherungen werden Scharen von Anwälten und Sachverständigen aufbieten. Alles andere als ein Rechtsstreit durch alle Instanzen wäre eine Überraschung. Möglicherweise wird sich irgendwann einmal der Europäische Gerichtshof mit dem Einsturz des Historischen Archivs an der Severinstraße beschäftigen. Die Nord-Süd-U-Bahn dürfte dann längst in Betrieb sein.