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InklusionArbeiten, leben, lieben – Lily und Marie gehen ihren Weg mit Down-Syndrom

Lesezeit 6 Minuten
In einem Wohnzimmer sitzen auf zwei grünen Sesseln ein Mann und eine Frau. Beide haben jeweils eine junge Frau auf dem Schoß.

Helmut und Martina Zilske mit ihren Töchtern Marie (26) und Lily (vorne, 24) 

Martina und Helmut Zilske haben Ende der 90er-Jahre zwei Mädchen mit Down-Syndrom adoptiert. Wir haben sie nach 15 Jahren wieder besucht.

Wer am Samstagmorgen bei den Zilskes vorbeikommt, findet eine fröhliche Viererrunde am Frühstückstisch. Die 24 Jahre alte Lily muss nochmal kurz los, ihren Freund Dennis vom Bahnhof abholen. Es stehen Brötchen auf dem Tisch, zwei Kannen Kaffee und eine Schüssel mit Flugmango-Quark. Flugmangos sind die Leidenschaft von Mutter Martina. „Sie müssen die unbedingt probieren“, fordert sie die Besucherinnen auf. Und dann erzählt sie einigermaßen übergangslos, warum Inklusion ihre Herzensangelegenheit ist.

„Als Musikschullehrerin und Sonderpädagogin habe ich tagtäglich beruflich mit Kindern mit Beeinträchtigungen zu tun, deshalb fiel mir die Entscheidung, zwei Mädchen mit Down-Syndrom zu adoptieren, damals nicht schwer“.  Das war Ende der 1990er Jahre. Die Zilskes wussten, dass sie keine eigenen Kinder haben können und entschlossen sich, zunächst Marie, wenig später auch Lily aufzunehmen. „Ich habe mir das zugetraut“, erklärte Martina Zilske im August 2009 der Chefreporterin des „Kölner Stadt-Anzeiger“, die die Familie mit den sieben und neun Jahre alten Mädchen besuchte.

Ein Mann und eine Frau sitzen auf Rattan-Korbstühlen. Beide haben jeweils ein Mädchen mit blonden Haaren und Brille auf dem Schoß.

Martina und Helmut Zilske mit ihren Töchtern Marie und Lily im August 2009

Ein Spaziergang ist so eine Lebensentscheidung natürlich dennoch nicht: Die Familie erlebte eine intensive und beanspruchende Zeit. Die Eltern investierten viel in die Förderung der beiden Töchter. Vater Helmut war als Oberstufenleiter einer Gesamtschule in Solingen-Ohligs tätig, turnte morgens mit Lily deren schwache Muskeln stark. Mutter Martina übte unermüdlich Lesen, Schreiben und Rechnen mit den Mädchen, musizierte mit ihnen, kutschierte sie ins Schwimmbad. Sport ist ihr wichtig, auch für sich selbst. „Ich springe morgens um sechs schon Seil, das macht Spaß und verbraucht viele Kalorien.“

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Im März 2025 hat sich der Alltag der Familie deutlich entspannt, die Lebenssituationen haben sich komplett gewandelt. Während die Eltern Richtung Ruhestand spazieren, haben sich Lily und Marie einen Alltag gestaltet, der nur deswegen erwähnenswert ist, weil er für Menschen mit Beeinträchtigung immer noch nicht selbstverständlich ist. Aber bevor sie davon erzählen, müssen erst noch Fotos gemacht werden.

Die Fotos von vor 15 Jahren werden auf neuen Sesseln nachgestellt

„Wir hatten damals noch andere Stühle“, sagt Helmut Zilske, der inzwischen pensioniert ist, als die Fotografin versucht, das Motiv von vor 15 Jahren mit den heute erwachsenen Töchtern nachzustellen. Sehr groß wachsen Menschen mit Down-Syndrom nicht, Marie misst etwas über 1,50 Meter, ihre Schwester fast 1,60. „Lily ist ganz schön schwer“, sagt Martina Zilske. Das Gewicht der Schwestern spielt in der Familie immer mal wieder eine Rolle. Vor allem Marie soll ihr Zielgewicht von 48 Kilogramm nicht überschreiten. Martina Zilske überwacht das. Weil Marie nun etwas mehr Gewicht auf die Waage bringt, hat sie ihre Mutter dazu bewegt, zeitweise aus ihrer eigenen Wohnung in Leichlingen wieder nach Hause zu ziehen. „Ich koche halt nicht so gerne und esse dann zu viele Fertiggerichte“, gibt Marie zu. Die Strenge der Mutter fußt auf gesundheitlichen Argumenten und hat nichts mit Kosmetik zu tun. Sie hatte eine gravierende Hüft-Dysplasie, die operiert werden musste. Wird ihr Körper zu schwer, belastet er das Knochengerüst zu stark.

Marie Zilske ist neben der Kölnerin Natalie Dedreux, die im vergangenen Jahr für ihr Engagement für Inklusion das Bundesverdienstkreuz bekam, eines der bekannten Gesichter der Down-Syndrom-Szene. Der WDR zeigte vor einigen Jahren eine mehrteilige Dokumentation über sie, denn Maries Werdegang ist bemerkenswert: Sie arbeitet an der TH Köln, genauer am Campus Südstadt am Ubierring, als Bildungsfachkraft.

Marie arbeitet als pädagogische Fachkraft an der TH Köln

„Ich habe eine dreijährige Ausbildung gemacht und unterrichte jetzt Erstsemester, die dort Sonderpädagogik studieren“, erklärt sie ihren besonderen Lehrauftrag an der TH Köln. Die Seminare sind Pflicht, alle werden von Kolleginnen und Kollegen geleitet, die eine Beeinträchtigung haben. Die Studenten sollen an ihrem Vorbild erfahren, was Menschen mit Behinderungen zu leisten imstande sind. Organisiert wurde die Ausbildung zur Bildungsfachkraft, die auch in Kiel und Stendal angeboten wird, vom Institut für inklusive Bildung.

„Ich wollte immer schon Lehrerin werden“, sagt Marie. Sie hat sich einen Traum erfüllt – eine absolute Seltenheit für Menschen mit Down-Syndrom: Sie ist auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt angekommen. „Ich werde ganz normal nach der Tarifordnung des Öffentlichen Diensts bezahlt.“ Für ihren 30-Stunden-Job bekommt sie etwa 1500 Euro netto. Es ist ihr wichtig, gleich behandelt zu werden. „Ich möchte nicht als Mensch mit Down-Syndrom gesehen werden, sondern einfach als Mensch.“ Maries Mutter hatte dafür gekämpft, dass sie an der Hauptschule Leichlingen den Förderschul-Abschluss absolvieren konnte. Dieser war ein wichtiger Baustein für ihre spätere Laufbahn. „Marie musste einen IQ-Test machen, der ihr bescheinigte, Förderbedarf im Bereich Lernen zu haben. Sie sollte nicht, wie bei Kindern mit Down-Syndrom üblich, im Bereich Geistige Entwicklung eingestuft werden.“

Lily betreut die Tigergruppe in einem Kindergarten in Leverkusen-Opladen

Maries Schwester Lily betreut die Tigergruppe in einem Kindergarten in Opladen. „Kinder sind so lieb und nett. Man kann Kinder fühlen“, schwärmt sie mit leuchtenden Augen. Lily arbeitet von Montag bis Donnerstag je sieben Stunden täglich, am Freitag fährt sie nach Köln zur Berufsschule.

Laut einem Bericht des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) arbeiteten 34.500 Menschen mit Behinderungen im Jahr 2023 in Werkstätten. Der Anteil derer, die wie Lily Zilske an betriebsintegrierten Arbeitsplätzen beschäftigt sind, ist in den Jahren 2019 bis 2023 von 2662 auf 2945 gestiegen. Lily erhält für ihre Vier-Tage-Woche 189 Euro. Der Staat stockt ihr Gehalt auf knapp 1000 Euro monatlich auf. Sie erhält die Grundsicherung, die allen Menschen zusteht, denen medizinisch attestiert wird, dass sie nicht voll erwerbstätig sein können.

Ein junger Mann mit dunklem Haar und eine junge Frau mit Zopf und Brille halten sich im Arm.

Lily Zilske und Dennis Meurer sind ein Paar.

Dass Menschen mit Down-Syndrom immer öfter eben nicht mehr nur in Werkstätten beschäftigt werden, sondern einfach mitten im Alltag zu finden sind, dafür stehen Marie und Lily Zilske. Beide haben Partner mit Down-Syndrom, die ebenfalls sichtbar sind im Arbeitsleben. Maries Freund David ist in einem Restaurant in Solingen beschäftigt, Lilys Freund Dennis in einer Zahnarztpraxis. Auch über ihn wurde im „Kölner Stadt-Anzeiger“ schon geschrieben.

In einem Facebook-Post hat Martina Zilske sich zuletzt an alle „Zweifler der Inklusion“ gewendet: „Lily ist fast 25. Aus ihrer Grundschulklasse sind die meisten erfolgreich im Leben. Lily hat sie nicht behindert. Aus ihrer Hauptschulklasse sind die erfolgreich geworden, die zu Hause unterstützt worden sind. Bildungserfolg scheitert nicht an der Inklusion, sondern an bescheidenen Lebensumständen.“ Wenn man die Zilskes am Frühstückstisch in Leichlingen nach ihrem größten Wunsch fragt, dann muss niemand überlegen: Dass dereinst Inklusion im Beruf nichts Besonderes mehr ist.


Der Verein Down-Syndrom Köln e.V. veranstaltet am Freitag, 21. März, um 17 Uhr unter dem Motto „Mir all‘ sin Kölle“ anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tags eine Demonstration für Vielfalt und Inklusion. Los geht es um 17 Uhr am Chlodwigplatz, die Teilnehmenden ziehen von dort  über Severinstraße, Heumarkt und Alter Markt bis zum Roncalliplatz. Dort ist für 18 Uhr eine Kundgebung geplant, es spielt die Kölner Band Auerbach.