Fast ein Drittel der Über-50-Jährigen ist alleinstehend – und viele sind glücklich damit. Warum Alleinsein auch ein Wunschzustand sein kann und welche Chancen darin liegen.
Überzeugte Singles Ü50Zwei Kölner berichten: „Alleinsein ist nur eine mathematische Feststellung“
Alleinsein und Einsamkeit – was auf den ersten Blick Hand in Hand zu gehen scheint, enttarnt sich beim genaueren Hinsehen als zwei völlig verschiedene Dinge. „Einsamkeit ist immer so negativ behaftet“, sagt Brigitte Schröder. Seit 1981 lebt die Rentnerin aus Köln-Riehl allein, genauso wie mehr als 30 Prozent der Menschen ihrer Generation. Einsam, isoliert, gelangweilt oder traurig sei sie nicht. Im Gegenteil: „Alleinsein kann auch schön sein“, sagt Schröder.
Die 69-Jährige steht für ein selbstbewusstes und unabhängiges Lebensmodell. Viele Alleinstehende, vermehrt Frauen mit 57 Prozent der weiblichen Singles zwischen 50 und 70 Jahren, wünschen sich keine Beziehung. Diese Erkenntnis hat eine Studie ergeben, die das Lebensgefühl und Beziehungsleben der Über-50-Jährigen untersuchte. Die Ergebnisse basieren auf 65 Tiefeninterviews und einer repräsentativen Online-Befragung von 1.061 Personen, durchgeführt vom Kölner Rheingold-Institut für die Witt-Gruppe, ein Textilhandelsunternehmen mit Sitz in der Oberpfalz.
Ein Befund: Je älter die Frauen werden, desto mehr schätzen sie Unabhängigkeit und Freiräume. Stefan Grünewald, Psychologe und Gründer des Instituts, beschreibt das mit einem „Aufbruch ins Unverbindliche“. Eine Studienteilnehmerin hält es im Interview so fest: „Männer nur noch ambulant, nicht mehr stationär.“ Sich treffen, gemeinsam Essen gehen, ins Theater, in den Urlaub: gerne. Zusammenleben: nicht unbedingt
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Gemeinsamer Urlaub gerne, Zusammenleben nicht unbedingt
Männer erweisen sich in der Beziehungssuche der Studie zufolge dagegen als die größeren Romantiker – der Glaube an die große Liebe sei noch deutlich stärker vertreten. Brigitte Schröder hat eine Theorie dazu, warum sich ältere Single-Männer noch eher ins Datingleben stürzen als Frauen: „Häufig sind das Witwer. Die suchen eine Partnerin, um den Zustand von vorher wiederherzustellen.“
Immerhin: 46 Prozent der Männer zwischen 50 und 70 Jahren suchen keine Partnerschaft. Sie sind glücklich mit ihrem Freiraum. Soziale Energie schöpfen sie aus anderen Beziehungen.
Jan Breuing verkörpert diesen Single-Mann. „Ich genieße das. Es ist Teil dessen, was ich in meinem Leben brauche, um ausgeglichen und im Reinen zu sein“, sagt der 57-Jährige. Seit 2021 lebt er allein, derzeit im Agnesviertel. „Alleinsein ist für mich erstmal nur eine mathematische Feststellung. Eben eins – nicht zwei, drei oder vier. Emotional hat es keine Gemeinsamkeit mit dem Thema Einsamkeit.“
Er schätzt die Zeit mit Freunden und Kollegen – und das Familienleben als Vater von drei Töchtern, nur eben ohne Partnerin an seiner Seite. Ein Eigenbrötler sei er deshalb nicht, sagt Breuing. „Ich kann schon Beziehungen pflegen, das ist mir auch wichtig.“ Nur der klassische Lebensentwurf „Hochzeit-Ehe-Kinder“, der immer noch als ideales Modell gesellschaftlich überstrahlend wirkt, „das hat bei mir von Anfang an nicht hingehauen“, sagt der Kölner, ohne Bedauern. „Ich vermisse kaum etwas. Ich liebe meinen Beruf. Und ich mag mich auch.“ Dass es einigen Menschen schwerfällt, sich selbst genug zu sein, findet Breuing „tragisch“.
Brigitte Schröders Schilderungen zeigen Parallelen. Sie hat einerseits ein großes soziales Umfeld, genießt aber auch die Zeit mit sich selbst: „Ich weiß immer, was ich machen kann. Es ist aber nicht so, dass ich unstet bin. Ich kann mich auch hinsetzen und einfach meinen Gedanken nachgehen.“ Mitleid habe sie für ihr jahrzehntelanges Solodasein nie geerntet. „Ich glaube, eher werde ich manchmal beneidet.“
Aufwand, Einsatz, Bemühen stehen aus ihrer Sicht auch als Trennmauer zwischen Alleinstand und Einsamkeit. Man müsse schlicht etwas tun. „Es kommt ja nicht von selbst. Die Leute klingeln nicht an der Tür und fragen: Wollen wir was machen?“
Brigitte Schröder hat als Fernsehpromoterin gearbeitet. Mit dem Eintritt in die Rente orientierte sie sich neu. „Man hat nicht so viele Hobbys, wenn man nur arbeitet und nur unterwegs ist.“ Sie scherzt. Klöppeln, Häkeln, Stricken, Briefmarkensammeln – ausgeschlossen als Beschäftigung für eine Frau in Bewegung. Sie wollte wandern. Sie fand das Kölner Freizeitnetzwerk Jabadu – ein Club, der neben Wanderausflügen Gruppenaktivitäten wie Städtereisen, Theater- oder Museumsbesuche anbietet.
„Es nehmen vor allem Seniorinnen und Senioren teil“, sagt Martin Schmücker. Er gründete das Netzwerk vor 20 Jahren. „Als junger Mensch hat man automatisch viel Abwechslung im Leben, bei älteren ist es umgekehrt. Da brechen Konstanten weg“ – Kinder, Job, der Partner oder die Partnerin.
Trotz verschiedenster Lebensveränderungen seien die meisten seiner Teilnehmenden weder vereinsamt noch in Kummer. „Das Gros ist recht aktiv“, bestätigt Schmücker die Ergebnisse der Studie. Die besagt außerdem, dass sich die Generation der Babyboomer auch bei der Hobbysuche gerne vom Klischee absetzt. Neben den Klassikern – Kochen, Lesen und Reisen – spielen sie Videospiele, gehen mit ihren Kindern auf Partys, absolvieren Fallschirmsprünge oder schaffen sich Motorräder an. Jan Breuing ergänzt die Liste individuell: Er baut Bio-Gemüse in einer Parzelle in Köln-Holweide an.
Bei Jabadu seien die Aktivitäten beinahe zweitrangig, sagt Martin Schmücker. Vielmehr gehe es darum, sich auszutauschen, Verbindungen zu knüpfen. „Manchmal finden sich auch Paare. Aber das steht nicht im Fokus“, so Schmücker. Eine Singlebörse ist das Freizeitnetzwerk nicht.
Midlife-Chancen statt Existenzkrise
Brigitte Schröder schätzt an dem Angebot noch etwas anderes: Sich einfach mal anzuschließen, ohne selbst die Organisation zu übernehmen. „Klar kann man auch ohne Begleitung ins Theater gehen, macht man aber seltener.“
Obwohl es keine Vorgaben gibt, melden sich bei Jabadu vermehrt Singles an – und überwiegend Frauen, erzählt Schmücker. „Wieso das so ist, darüber zerbreche ich mir den Kopf. Vielleicht sind Frauen in dem Alter kommunikativer, vielleicht steht auch nicht so eine Rundumbetrachtung des Lebens an.“
Das stereotype Bild einer plötzlich auftretenden Existenzkrise scheint geschlechterübergreifend überholt. Das zumindest ist das Ergebnis der Witt-Studie. Die Lebensphase werde eher als Midlife-Chance begriffen, schreiben die Autoren. „Einsamkeit ist nicht das bestimmende Thema“, heißt es in der Untersuchung.
Das Ergebnis mag kaum überraschen. Die Witt-Gruppe hat es sich eigenen Angaben zufolge zur Aufgabe gemacht, „mit ihrer Mode Frauen ab 50 in ihrer Selbstbejahung und Selbstbestimmtheit zu bestärken“.
Kein klarer Zusammenhang zwischen einzelgängerischen Lebensformen und Einsamkeit
Fakt ist dennoch, dass sich Millionen von Menschen in Deutschland einsam fühlen. Das ergibt das Einsamkeitsbarometer, eine Langzeitstudie des Bundesfamilienministeriums. Demnach sind verheiratete Menschen mit höherer Bildung und gutem Einkommen seltener einsam als alleinstehende Menschen mit wenig Bildung und wenig Einkommen.
Die aktuelle Forschung weist aber auch darauf hin, dass „kein klarer Zusammenhang zwischen der Zunahme von einzelgängerischen Lebensformen und Einsamkeitsbelastungen“ besteht – insbesondere, wenn die Partnerlosigkeit eine bewusste Entscheidung ist. Da gleichen sich das Einsamkeitsbarometer und die Witt-Studie wieder an.
Und: „Man kann sich auch in einer Partnerschaft verlassen fühlen“, sagt Jan Breuing dazu. „Ich kenne sehr viele Leute, die lange Beziehungen führen und darin sehr einsam sind.“
Die etablierte Annahme, dass ein Leben mit Partner oder Partnerin der erstrebenswertere Zustand ist – die kann nerven. „Im Urlaub hat sich der Kellner auch am dritten Tag noch danach erkundigt, ob meine Frau noch kommt“, erzählt Breuing. „Sowas macht dann schon wütend.“ Ärgerlich macht ihn, dass ihm im Restaurant schon einmal der Platz verwehrt wurde. „Als Einzelperson macht man schließlich kaum Umsatz.“ Das Alleinsein an sich sei bei alledem weniger das Problem, sagt Breuing. Eher misse er manchmal, die Freude in schönen Momenten zu teilen.
Brigitte Schröder erlebte auch schon Zeiten, in denen sie dachte: „Es wäre auch mal schick, wenn einer da wäre.“ Besonders in belasteten Phasen: Als sie mit Mitte 50 kurzzeitig ohne Job dastand, als sie fünf Jahre lang ihre Eltern pflegte oder in der Coronazeit. Das Leben ist kein Wunschkonzert, kommentiert sie schließlich die Betrachtung und wendet sich doch wieder ins Positive. „Wenn ich mir die berühmte Plus-Minus-Liste des Lebens anschaue, dann überwiegt die positive Seite.“
Gedanken macht sie sich darüber, wie es weitergeht, wenn sie eben nicht mehr allein leben kann und auf Hilfe angewiesen sein wird. Um einen Platz in einer Seniorenresidenz habe sie sich bereits gekümmert. Viele verschließen davor allerdings die Augen, nehme sie wahr.
Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut beschreibt dieses Phänomen so: „Die steigende Selbstbezüglichkeit der Generation 50 Plus ist auch ein Zeichen des Zeitgeistes. Krisen wie der Klimawandel, Kriege oder der Substanzverlust der deutschen Wirtschaft werden genauso verdrängt und vom eigenen Leben möglichst ferngehalten wie die Zeichen der eigenen Sterblichkeit.“
Anfang des Jahres sei auch Brigitte Schröder aufgewacht, ihr erster Gedanke: „Nächstes Jahr wirst du 70.“ Und nach dem unerwarteten Erschrecken: „Nützt ja nichts, es geht trotzdem weiter. Man muss jeden Tag genießen.“ Über Weihnachten wagt sie sogar etwas Neues: Eine geführte Wanderreise auf Gran Canaria – da ist sie nicht allein, genauso wenig wie Jan Breuing. „Mit Familie und Kindern, das sind meine Pläne“, sagt er. Einsam wird es da nicht sein.