Köln – Der Moment wirkt wie ein Ausschnitt aus einem falschen Film: Da hüpfen zwei als Kätzchen verkleidete junge Frauen eingehakt die Treppe zum Neumarkt-Bahnsteig hinab, den USB-Lautsprecher wie eine Handtasche schwenkend. Das „Viva Colonia“ übertönt die einfahrende Linie 18. Noch vor ein paar Tagen hätte man selber fröhlich in den „Höhner“-Song eingestimmt: „Da simmer dabei, dat ist prima“, doch jetzt kollidiert die Szene im Kopf mit Bildern von jungen Menschen, die sich in einer ähnlichen U-Bahnstation weinend in den Armen liegen; nur dass sich das knapp 2000 Kilometer von Köln entfernt in Kiew zuträgt.
Die Bahnen sind eher leer an diesem Samstagnachmittag, die Jecken in der Minderzahl. Anders als in „normalen“ Jahren, in denen das Auge automatisch auf Rot-weiß-Modus schaltet, muss man in der Fußgängerzone fast nach Geringelten suchen.
„Die nächste Rund, die jeiht op mich“, dröhnt es vom Appellhofplatz bis zum Anfang der Breite Straße aus den Boxen vom „Schmittchen“. Verwaiste Bistrotische hinter Drängelgittern. „Es ist alles nicht mehr so wie früher, und jetzt noch dä Driss in der Ukraine“, klagt Wirt Helmut Schmitt, dessen Kneipe an Tagen wie diesen jahrzehntelang schier überrannt wurde. Einige Passagen laufen mit befremdetem Blick an dem beschallten Käfig vorbei.
Karnevalisten: „Um die Kriegsbilder aus dem Kopf zu kriegen“
Im Gegensatz zu den vergangenen Monaten, in denen sich Geimpfte und Impfgegner vielfach wie Anhänger zweier Lager gegenüberstanden, prallen nun die Träger schlichter Mund-Nasen-Masken auf die wenigen Kostümierten, ohne das zu schaffen, wofür sich diese Stadt sonst rühmt: Zesammestonn.
Rita und Joachim Herten spazieren im Clownskostüm durch die Fußgängerzonen. Auf ihren Wangen haben sie Peace-Zeichen gemalt, aus ihren Augen blickt Traurigkeit. „Es fühlt sich nicht richtig an, jedenfalls nicht so wie sonst, bekennt das Ehepaar aus Gummersbach, das sich „wochenlang auf den Karneval gefreut“ hatte und am Morgen spontan beschloss, „jetzt doch nach Köln zu fahren, um die Kriegsbilder aus dem Kopf zu kriegen.“
Auf der Ehrenstraße sieht man mehr Einkaufstüten- als Kostümträger
Im weiteren Verlauf der Breite Straße sieht man, wie sich drei bunte Mexikanerhüte schaukelnd vorwärts bewegen. Viele Stellen dieser frisch deklarierten Brauchtumszone wirken indes so, als habe sich das Brauchtum dem Bereich des Sichtbaren komplett entzogen. Auf der gesamten Ehrenstraße sind lediglich Einkaufstüten, aber kein einziger Kostümträger zu sehen. Das ändert sich schlagartig, wenn man die Ringe kreuzt, wo Bierflaschen schwenkende Plüschfellträger das Straßenbild prägen und unzählige dieser unvermeidlichen SWAT-Teams im Einsatz sind. Tim, Noah und Masis, drei 18-Jährige stehen mit Mini-Kölschfässchen am Rudolfplatz und lassen sich den Spaß nicht verderben. „Das ist natürlich traurig mit der Ukraine, aber Karneval ist nur einmal im Jahr!“
Fantasievolle Kostüme sind dieses Jahr in Köln rar
Richtung Zülpicher Platz dominiert die echte Polizei, die mit zahlreichen Fahrzeugen Präsenz zeigt. Immer häufiger sind die Schritte mit dem Geräusch von knirschendem Glas verbunden, aber es sind keine aggressiven Szenen zu beobachten. Der Kölner Tim steht am Barbarossaplatz mit einem unter den Arm geklemmten weißen Plüschhund. Irritiert blickt die perfekte Kopie von Tim & Struppi einem Grüppchen hinterher, das über der Camouflage-Kleidung den mit Schnapsfläschchen bestücken Patronengurt trägt. „Manche denken beim Kostüm wirklich keine drei Sekunden nach“, bemerkt der junge Mann kopfschüttelnd.
Allerdings sieht man - wenn auch selten - Kostüme, hinter denen Arbeit und Fantasie steckt wie bei Carolin und Anna, die selber wie Cocktails aussehen und die „super Stimmung“ im Haus Unkelbach loben. „Wer sich fürs Feiern entschieden hat, hat hier echt Spaß!“
„Make FasteLOVEnd not war"
Der dringt jedoch nicht überall aus den Türen. „Karneval ist ein Überraschungsei“, meint Dirk Schröder, der Wirt vom „Trierer Eck“. Während drinnen noch die Fußballübertragung läuft, füllt der Mann draußen das ein oder andere Kölsch-Glas. „Es ist nicht das Geschäft, das wir uns gewünscht hätten“.
Dem würde Peter Wicks kaum widersprechen. Der „Südkurve“-Wirt betrachtet jedoch weniger den Ukraine-Krieg als Ursache für den verhaltenen Ansturm, sondern die Einlass-Bedingungen. Viele von auswärts – und sei es auch nur aus Hürth-Efferen – wüssten nicht von dem erforderlichen Test.
Schweigeminute im Knollendorf in Köln-Sülz
Ein paar Schritte weiter stadtauswärts hat der Zeichner Wilhelm Schlote ein aktuelles Werk ins Fenster gestellt: „Make FasteLOVEnd not war“ steht in großen Buchstaben unter einer Friedenstaube. Wie gut sich der Wunsch nach Frieden mit dem Karneval vereinbaren lässt, zeigt Chris, eine Frau aus Sülz mit ihrem Kostüm: Auf der einen Wange das Peace-Zeigen, auf der anderen die ukrainischen Farben und an ihrem Schiffchen die Weltkugel, der Dom und ein blaugelbes Band.
Chris gehört zu den Gästen, die an der Kneipensitzungs-Premiere im „Knollendorf“ teilnehmen. Natürlich sei das Feiern in diesem Jahr eine Gratwanderung, betont die Kölnerin, die selbstverständlich am nächsten Tag an der Solidaritiäsdemo für die Ukraine am Dom und beim Friedensmarsch am Rosenmontag teilnehmen wird. Auch andere Gäste bekennen, sie wären zuhause geblieben, wenn ihr „Verhalten irgendwas ändern würde“. Kurz bevor Ralf Hötgen das Buffet eröffnet, bittet der Knollendorf-Wort um eine Schweigeminute. Auch das dürfte es im Karneval lange nicht gegeben haben.