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Missbrauchsskandal„Verwundert über so viel Inkompetenz in der Kölner Bistumsleitung“

Lesezeit 5 Minuten
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Der Kölner Erzbischof Rainer Woelki 

  1. Der Jesuitenpater Klaus Mertes machte Anfang 2010 den Missbrauchsskandal an dem von ihm geleiteten Canisius-Kolleg in Berlin öffentlich.
  2. Das löste eine Welle aus: Bundesweit und auch im Gebiet des Erzbistums Köln meldeten sich Menschen, die von kirchlichen Amtsträgern missbraucht worden waren, erstmals öffentlich zu Wort.
  3. Pater Mertes ist allerdings sehr irritiert darüber, wie die Kölner Bistumsleitung in ihrem bisher gescheiterten Bemühen um rechtliche Aufklärung mit dem Betroffenenbeirat umgeht. Ein Interview.

Pater Mertes, Kardinal Rainer Woelki hat ein neues Rechtsgutachten zum sexuellen Missbrauch in Auftrag gegeben. Zuvor hatte er ein erstes Gutachten wegen angeblicher schwerer Mängel kassiert. Der Betroffenenbeirat schloss sich dem Vorgehen zunächst an. Inzwischen klagen Mitglieder, sie fühlten sich vom Erzbistum instrumentalisiert.

Klaus Mertes: Sie fühlen das nicht nur, sie werden ja auch tatsächlich instrumentalisiert. Das Erzbistum beruft sich für das neue Gutachten auf einen Wunsch der Betroffenen. Die Opfer so in die Mitverantwortung zu nehmen ist eine Wiederholung des Missbrauchs.

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Der Jesuitenpater Klaus Mertes

Wie bitte?

Ja! Es ist dieselbe Konstellation, in der die Missbrauchstäter nachträglich zu ihren Opfern sagen: „Ihr habt doch selbst gewollt und mitgemacht.“ Genau diesen Text müssen sich die Betroffenen nun wieder anhören.

Aber Sie wünschen sich doch Beteiligung. Sie wollen, dass nicht über sie gesprochen wird, sondern mit ihnen.

Das ist nicht nur verständlich, sondern auch vollkommen berechtigt. Aber Beteiligung kann nicht bedeuten, sich auf die Opfer zu berufen für Entscheidungen, die einzig und allein die Institution und ihre Vertreter zu treffen und zu verantworten haben. Kardinal Woelki hat zur Einrichtung des Betroffenenbeirats im Erzbistum Köln gesagt: „Die Opfer helfen uns bei der Aufarbeitung.“ Das ist genau der falsche Satz.

Zur Person

Der aus Bonn gebürtige Klaus Mertes (Jahrgang 1954) ist Jesuitenpater.Am Canisiuskolleg, einer Schule seines Ordens in Berlin, machte er 2010 denMissbrauchsskandal in der katholischen Kirche öffentlich.

Mertes leitete die Schule von 2001 bis 2011. Anschließend war er von 2011 bis 2020 Rektor des Kollegs Sankt Blasien im Schwarzwald.

Warum?

Erstens ist der Satz eine Binse. Aufarbeitung von Missbrauch geht ja von vornherein und überhaupt nur mit Beteiligung der Opfer. Sie sind die wichtigsten Zeugen. Ohne ihre Berichte würde die Aufarbeitung gar nicht beginnen. Zweitens ist es wichtig, in allen unterschiedlichen Phasen der Aufarbeitung die Opferperspektive präsent zu haben, auf Augenhöhe.

Das heißt?

Die Opfer sind es, die sagen, was ihre Perspektive ist, nicht die Institution. Dann aber ist es eben nicht die Aufgabe und Rolle der Opfer, der Institution zu helfen, so dass ein Bischof hinterher sagen kann: „Weil die Opfer es so wollten, deshalb habe ich beschlossen.“ Was die Kirche tut, darf sie nicht mit der Begründung tun, dass die Opfer es wollten. Sie muss es tun, weil sie selbst es will und für richtig hält, auch wenn es dann dem entspricht, was die Opfer wollten.

Wie sollte die Beteiligung der Opfer denn dann Gestalt gewinnen?

Es darf jedenfalls keine Form sein, die wieder von der Kirche bestimmt wird. Die ganze Konstruktion des Betroffenenbeirats ist schon im Ansatz verfehlt. Ein Gremium, dessen Mitglieder der Kardinal auswählt und beruft, ist schon strukturell nicht „auf Augenhöhe“. Er lädt die Opfer zum Mitmachen ein – aber unter seinen Bedingungen. Die Institution zeigt zwar erst mal ein freundliches Gesicht: „Wir machen jetzt, was ihr wollt.“ Aber dann kommt das hässliche Gesicht zum Vorschein – wie jetzt in Köln mit der platten Instrumentalisierung bei diesem Gutachten. Ich bin sehr verwundert über so viel Naivität und Inkompetenz in der Kölner Bistumsleitung.

Guten Willen unterstellen Sie schon, oder?

Ja. Aber ich spüre auf der Kirchenseite auch den Harmoniewunsch. Er führt zu neuen Übergriffigkeiten, gerade dann, wenn er auf nachvollziehbare Harmoniewünsche der Opfer trifft, den Wunsch eingeschlossen, ernst genommen und anerkannt zu werden. Gemeinsam harmonisch aufarbeiten – das funktioniert nicht, und zwar nicht wegen eines Mangels an gutem Willen, sondern weil die ganze Harmonie-Konstellation systemisch nicht stimmt.

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Was setzen Sie dagegen?

Die Bistümer und auch die Ordensgemeinschaften müssen die Selbstorganisation von Betroffenen als Gegenüber respektieren und als Verhandlungspartnerin anerkennen. Oder anders formuliert: Der runde Tisch muss eckig bleiben können. Seit zehn Jahren ist das mein Herzensanliegen für den Umgang mit den Betroffenen. Aber das ist offensichtlich nicht zu vermitteln. Ich stelle mir immer noch eine unabhängige Kommission vor, die diesen Namen verdient.

Eine Art „Wahrheitskommission“?

Ja, so etwas. Dort könnten auch Meinungsverschiedenheiten und Konflikte ausgetragen werden. Man dürfte einander widersprechen, wirklich sagen, was man denkt. Das Ganze müsste unabhängig moderiert werden. Entscheidungsverfahren und Zuständigkeiten müssten vorher genau festgelegt sein. Dann käme man sehr viel weiter, übrigens auch in den Fragen nach Transparenz, die ja auch ihre Grenzen hat.

Inwiefern?

Wenn man Opfern zum Beispiel Akteneinsicht gewährt, dann müssen sie auch offen darüber sprechen können, was sie gesehen haben. Volle Akteneinsicht beinhaltet aber die Pflicht zur Vertraulichkeit. Wenn man die von den Betroffenen verlangt, sind sie wieder in der Schweigefalle. Das sollte doch jedem klar sein: Die Opfer wurden als Kinder und Jugendliche auf sehr subtile Weise zum Schweigen gebracht – von den Tätern und von Vertretern der Institution Kirche, indem sie die Opfer in die Pflicht nahmen, die Täter und die Institution zu schützen. Und jetzt will eben diese Institution den Opfern wieder vorschreiben, was sie sagen dürfen und was nicht? Sie wieder in eine Schutzverantwortung für die Kirche nehmen? Das ist auf absurde Weise gruselig.