Rätselhafter Kriminalfall in KölnDer Tag, an dem das Baby Rolf verschwand
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Zwei Monate war Rolf Hörnschemeyer alt, als seine Mutter mit ihm im Jahr 1939 ein Warenhaus an der Hohe Straße betrat.
Sie sollte ihren kleinen Sohn nie mehr wiedersehen. Der Fall des kleinen Jungen ist eines der größten kriminalistischen Rätsel der Stadt.
Die noch lebende Schwester von Rolf erhebt einen ungeheuerlichen Verdacht gegen die Mutter.
Am 25. März 1939 verschwindet im Warenhaus „Woolworth“ an der Hohe Straße das erst zwei Monate alte Baby Rolf Hörnschemeyer. Das Kind taucht nie wieder auf. Würde Rolf leben, wäre er heute 80 Jahre alt. Denn damals heißt es: Eine unbekannte Frau habe den acht Wochen alten Säugling aus dem Kinderwagen entführt. Alle Zeitungen, auch die „Kölnische Zeitung/Stadt-Anzeiger“, der Vorläufer des „Kölner Stadt-Anzeiger“, schreiben über den Fall aus der Kölner Innenstadt.
Aber ist Rolf wirklich tot? Oder lebt er und weiß nichts von seiner wahren Herkunft? Und wer hat ihn geraubt? 2019, vor wenigen Tagen. In einer kleinen Wohnung im Krefelder Stadtteil Fischeln sitzt Iris Hörnschemeyer, geboren 1944, an ihrem Computer. Die Frage, was aus Rolf wurde, der ihr Bruder wäre, treibt sie bis heute um. Sie bewahrt ein Familienfoto von 1946 auf. Nach Rolfs Verschwinden haben die Hörnschemeyers noch zwei Kinder bekommen. Das Bild sieht nach einer Familien-Idylle aus.
Fahndungsaufrufe in der Presse
Die Eltern waren die in Holweide wohnenden Rudolf Hörnschemeyer, Verkaufsdirektor bei VW sowie Berta Hörnschemeyer, Kauffrau bei Klöckner-Humboldt-Deutz. Das Tatgeschehen laut Anzeige: An jenem Samstag in der City wollen sie Einkäufe erledigen. Der Mann (26) geht in ein Radiogeschäft, die Frau (24) zu „Woolworth“. Sie stellt den Kinderwagen ab und geht in den 1. Stock. Als sie nach wenigen Minuten zurückkehrt, ist das Baby aus dem Wagen verschwunden. Kein Angestellter hat etwas bemerkt.
Die Eltern erstatten Anzeige bei der Polizei. Es gibt Fahndungsaufrufe in Radio und Presse. Der Fall schockt die Öffentlichkeit. Zeugen melden sich, aber es gibt keine heiße Spur. Das Baby bleibt verschwunden. Wenige Monate später bricht der Zweite Weltkrieg aus.
Im August 1940 erfährt der Fall dann eine unvorhergesehene Wendung. Ist ein Findelkind aus Gleiwitz der geraubte Rolf? Im oberschlesischen Gleiwitz finden spielende Kinder in einem Hauseingang einen weinenden Jungen. Die Behörden können keine Angehörigen ausfindig machen. Aber die Kripo stößt auf die Geschichte des verschollenen Babys aus Köln. Das Findelkind, mittlerweile in Obhut der Pflegemutter Angela Moritz, wird von der Kölner Kriminalsekretärin Eleonore Lüttgen nach Köln gebracht. Die Hörnschemeyers werden zum Abgleich von körperlichen Merkmalen erbbiologisch untersucht. Das Urteil der Mediziner: Es ist „in hohem Maße unwahrscheinlich“, dass der Junge aus Gleiwitz Rolf Hörnschemeyer ist. Das Findelkind wird zurück nach Gleiwitz gebracht.
Sämtliche weiteren Ermittlungen verlaufen im Sande. Bei einem der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg verbrennt ein Teil der Hörnschemeyer-Akten.
Erst 1947 kommt plötzlich wieder Bewegung in den Fall. In einem anonymen, an die Polizei adressierten Brief, wendet sich eine Frau an Rolfs Mutter. „Da es nun schon acht Jahre her ist, wo Ihr kleiner Junge in einem Geschäft aus dem Kinderwagen genommen ist, will ich über seinen Verbleib ein wenig berichten. Ihr Kind lebt noch und ist bei mir in guter Obhut. Es tut mir herzlich Leid, dass ich ihr Kind an mich gerissen habe“, steht darin. Und sie liefert ein Motiv: Ihr eigenes Kind habe nur wenige Stunden gelebt, ein Arzt habe ihr keine Hoffnung auf ein zweites Kind gemacht. Und: Wenn Rolf 17 werde, werde er die Wahrheit erfahren – „dann soll er selbst entscheiden, ob er wieder zu seiner Mutter zurückkehren oder bei mir bleiben will.“ Doch es gibt kein weiteres Lebenszeichen. Rolf bleibt verschwunden.
Die in Krefeld lebende Schwester erzählt nun ihre Sicht der Dinge und zeichnet ein erschütterndes Bild der Familie Hörnschemeyer. „Meine Mutter wollte nie Kinder. Nachdem sich unsere Eltern getrennt hatten, kamen mein Bruder und ich in ein Kinderheim“, sagt die 75-Jährige. Bis sie eine junge Frau war, seien das Kinderheim am Kölner Melatengürtel und eines in Witten ihr Zuhause gewesen. Von ihrer Mutter sei sie immer wieder abgewiesen worden. Eines Tages stieß Iris Hörnschemeyer während eines Besuchs im Keller auf Briefe ihrer Mutter, die ein Geheimnis verrieten. Rudolf Hörnschemeyer war weder der Vater von Iris noch von Dieter und auch nicht von Rolf. „Ich fand heraus, dass mein leiblicher Vater mittlerweile in der DDR lebte“, erzählt Iris Hörnschemeyer. Die Mutter hatte mit einer Lüge gelebt. Hat sie vielleicht auch über Rolfs Verschwinden die Unwahrheit gesagt?
War der Raub inszeniert?
Leider, sagt Iris Hörnschemeyer, habe ihre Mutter nie mit ihr darüber reden wollen. „Sie sagte immer nur, und wurde vulgär dabei: »Das geht dich einen Scheißdreck an.« Selbst auf dem Sterbebett gab sie 2014 nur diese verstörende Antwort.“ Iris Hörnschemeyer hält es für möglich, dass die Geschichte um Rolfs Entführung inszeniert war – und die Mutter ihr eigenes Kind weggegeben oder gar in irgendeiner Form „beseitigt“ hat. Tatsächlich hatte die Kölner Kripo damals den Garten der Hörnschemeyers umgegraben und die Bodendielen rausgerissen, aber nichts entdeckt.
Berta Hörnschemeyer wurde 99 Jahre alt. Sie betrieb einst ein Tierheim in Dünnwald. Der Kölner Journalistin Kirsten Serup-Bilfeldt, die ebenfalls vor einige Jahren über Rolfs Verschwinden berichtet hatte, gab sie im Jahr 2005 ein Interview, in dem sie sagte: „Ich wollte keine Kinder. Wir wollten nur in der Welt rumreisen.“ („Ins Gedächtnis eingebrannt“, Kirsten Serup-Bilfeldt, Kiwi-Verlag)
Kirsten Serup-Bilfeldt hatte anhand der alten Polizeiakten, die der frühere Kölner Kripochef Walter Volmer (gest. 2010) zusammentrug, den Fall erstmals detailliert geschildert. „Walter Volmer kannte noch die Kollegin, die den Jungen aus Gleiwitz holte, persönlich“, sagt sie.
80 Jahre nach dem Verschwinden des Babys steht nur eine Sache fest: Rolf Hörnschemeyers Schicksal bleibt eines der größten kriminalistischen Rätsel der Stadt. (red)
Hinweis: Diese Geschichte ist zuerst im EXPRESS erschienen.