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Reichspogromnacht„Halle ist kein Alarmzeichen, sondern die Katastrophe“

Lesezeit 3 Minuten

Bettina Levy und Felix Schotland vom Vorstand der Synagogen-Gemeinde

Köln – Nach dem Versuch eines Massenmords an Juden am 9. Oktober in Halle, bei dem der Attentäter eine Passantin und einen Imbiss-Besucher erschoss, sprach die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer von einem „Alarmzeichen“ – und erntete viel Kritik dafür.

Unter die Kritiker hat sich am Freitag Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, eingereiht. Kramp-Karrenbauers Wortwahl sei „irritierend, verharmlosend und letztlich völlig inakzeptabel“, sagte er bei der Gedenkveranstaltung in der Synagoge Roonstraße, mit der die Synagogen-Gemeinde Köln und die Kölnische Gesellschaft an die Reichspogromnacht 1938 unter der Naziherrschaft erinnerten.

Oberbürgermeisterin Henriette Reker, Bürgermeister Andreas Wolter und Isabella Farkas von der Synagogengemeinde (vordere Reihe)

„Halle ist kein Alarmzeichen mehr, Halle ist die Katastrophe“, unterstrich Wilhelm. Den Boden maßgeblich mitbereitet habe Thilo Sarrazin mit seinem 2010 erschienenen Buch „Deutschland schafft sich ab“. Seitdem habe „sich der Bazillus der Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus und des Antisemitismus in der bundesdeutschen Bevölkerung massiv verbreitet“. Nun erlebe man „den Sturm, vor dem wir hier in dieser Synagoge seit Jahren gewarnt haben“. Viel zu lange sei die Gefahr, die besonders die AfD mit gezielten Tabubrüchen schüre, „entweder kleingeredet, totgeschwiegen oder auch unterschätzt worden“.

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Das Versagen sei massiv

Die Parole „Wehret den Anfängen“ sei „vollkommen überholt“, denn „die Neonazis sitzen in fast allen Parlamenten“; dies bedeute, dass „wir mitten in der Auseinandersetzung zur Verteidigung unserer Demokratie sind“.

Das „Versagen der politischen Elite, des Verfassungsschutzes und der Polizei“, sei „so massiv, dass wir als Zivilgesellschaft, als Bürger Kölns und der Region zumindest alles uns Mögliche versuchen müssen, den Widerstand gegen Neonazis und Rechtsradikalismus so kraftvoll und vernehmlich wie möglich zu organisieren“.

„Betrübnis ist keine Lösung“

Oberbürgermeisterin Henriette Reker befand: „Die Geschichte hat uns vor einem erneuten Erstarken des Rechtsextremismus nicht bewahrt.“ Das belege etwa eine Studie des Jüdischen Weltkongresses, der zufolge jeder vierte Deutsche antisemitische Gedanken habe. Das „rechte politische Lager“ habe „die Grenzen des öffentlich Sagbaren schon längst verschoben“; Hass und Gewalt seien die Folge.

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Wie schnell aus Worten Taten würden, zeigten die „Ereignisse in Halle“. Doch „Betrübnis“ sei keine Lösung. Vielmehr gelte es, die Ablehnung des Rechtsextremismus „mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit deutlich zum Ausdruck zu bringen“, Zivilcourage zu zeigen und für die Grundwerte der Verfassung, allen voran die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Stellung zu beziehen. Vorbild könnten diejenigen sein, die 1938 „mitten in der Barbarei“ für Humanität eingestanden hätten.

Zum Einsatz gegen Antisemitismus und Rassismus und für die Demokratie riefen auch Bettina Levy und Felix Schotland vom Vorstand der Synagogen-Gemeinde auf. „Ein bisschen antisemitisch“ und „nicht so schlimme Vorfälle“ gebe es nicht, sagt Schotland. Niemand könne heute sagen, er habe nichts bemerkt und nichts kommen sehen. Der wesentliche Unterschied zur Nazi-Zeit sei jedoch die Existenz des Staates Israel, „unsere Lebensversicherung“. Umso perfider sei der „israelbezogene Antisemitismus“.