Lydia Mörs-Plattes war bei der Bundestagswahl die älteste Wahlhelferin Kölns. Sich für die Demokratie zu engagieren, ist ihr ganz wichtig. Was sie noch gelernt hat in einem Jahrhundert Leben.
Lydia Mörs-Plattes aus KölnLehren aus 100 Jahren Leben – „Mach' dich nie finanziell abhängig“

Im Oktober feiert Lydia Mörs-Plattes ihren 101. Geburtstag – die Luftballon-100 hängt noch, nur etwas müde, im Wohnzimmer.
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Am 23. Februar um 13.12 Uhr wurde Lydia Mörs-Plattes berühmt. Deutschland wählte an diesem Sonntag einen neuen Bundestag, und um diese Zeit verschickte die Nachrichtenagentur dpa die Meldung „NRW wählt den Bundestag – höhere Wahlbeteiligung in Köln“. In der Meldung, die deutschlandweit verbreitet wurde, stand: „Rund 110.000 Wahlhelferinnen und Wahlhelfer sollen in NRW für einen reibungslosen Ablauf in etwa 16.000 Wahlräumen sorgen. Unter ihnen ist nach Angaben der Stadt Köln auch die 100 Jahre alte Lydia Mörs-Plattes, Kölns älteste Wahlhelferin.“

Henriette Reker (parteilos, l), Oberbürgermeisterin von Köln, bedankt sich bei Lydia Mörs-Plattes, mit 100 Jahren Kölns älteste Wahlhelferin für ihren Einsatz.
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Oberbürgermeisterin Henriette Reker ehrte Mörs-Plattes an diesem Tag, die örtliche Presse war vor Ort, die OB brachte ihr Pralinen und einen Karnevalsorden ins Wahllokal in Godorf. Die Geehrte bedankte sich, „wunderbar, da freue ich mich“, und revanchierte sich mit einer kleinen Flasche Sekt und einem so großen wie weisen Wunsch: „Frau Reker, ich hoffe, dass unsere diesjährige Wahl auch für die Politiker wirklich etwas bringt und die für Frieden und Völkerverständigung arbeiten.“
Keine zwei Wochen später. Lydia Mörs-Plattes sitzt auf ihrem Lieblingsplatz in der schmalen Küche ihres kleinen Hauses in Köln-Godorf. Am Tisch, der dicht vor dem Fenster steht, weil dort das Licht am besten ist. „Bis vor zehn Wochen konnte ich noch alles lesen. Zeitungen, Bücher, alles“, sagt die Kölnerin. Seither hat ihre Sehfähigkeit stark nachgelassen, Mörs-Plattes will aber nochmal zum Augenarzt, „mal gucken, ob der da nicht doch noch was machen kann, Spritzen oder so.“ Vor 20 Jahren hat sie sich neue Linsen einsetzen lassen. Dinge einfach hinnehmen, laufen lassen, das, so scheint es nach einem langen Nachmittag in der kleinen Küche, ist nicht das Ding von Lydia Mörs-Plattes.
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Lydia Mörs-Plattes als 18-Jährige.
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Aber was ist und was war ihr Ding? Worauf kam es ihr im Leben an? Was lernt man so in 100 Jahren auf dieser Welt? Was würde sie jungen Frauen heute mitgeben wollen?
Engagiere dich politisch
Der Einsatz als Wahlhelferin war nicht Lydia Mörs-Plattes' erster. Fünf-, sechsmal habe sie das bestimmt schon gemacht. „Es macht mir“, sagt sie bescheiden und nimmt einen Schluck Wasser aus dem roten Becher, der farblich zu ihrem Pullover passt, „einfach Spaß zu helfen“.
Politisch interessiert sei sie immer gewesen, sie engagierte sich in der Friedensbewegung, habe 1981 im Bonner Hofgarten gegen die atomare Bedrohung demonstriert. 300.000 Menschen protestierten dort unter anderem gegen den Nato-Doppelbeschluss, am Mikrofon standen Heinrich Böll, Petra Kelly oder auch Uta Ranke-Heinemann. „Ich habe damals alle großen Demos mitgemacht“, sagt Mörs-Plattes. Wer einen Krieg erlebt habe, könne doch gar nicht anders, als sich für Frieden einzusetzen.
Mörs-Plattes wurde am 7. Oktober 1924 in der Kölner Südstadt geboren. Die Familie lebte in einer Wohnung an der Meister-Gerhard-Straße, der Spielplatz der Kinder war der Rathenauplatz, „da haben wir unser Unwesen getrieben“. Mörs-Plattes Vater war, so erzählt sie es, Kriegsgegner, sagte immer: Wer Nazis wählt, wählt den Krieg. „Mein Vater hat immer den Mund aufgemacht, und er hat oft nicht über die Konsequenzen nachgedacht. Ich erinnere mich noch, wie er vor dem Krieg einmal von der Gestapo abgeholt und ins EL-DE-Haus gebracht wurde, weil er etwas gegen die Nazis sagte“, erzählt die Kölnerin. Sie selbst hörte als Jugendliche oft BBC-Radio, „die Gefahr, die darin lag, war mir damals aber nicht bewusst“. Manches begreift man nicht als junger Mensch.
Wahlergebnisse wie die aktuellen machen Mörs-Plattes ratlos: „Da wählen so viele Menschen die AfD und glauben, mit denen würde irgendwas besser.“ Bis heute ist die 100-Jährige der Überzeugung: Jeder und jede muss sich engagieren, sollte einen kleinen Teil zum Gelingen der Demokratie beitragen. Und jeder sollte froh und dankbar sein über die Möglichkeit, frei wählen zu können.
Mach' dich nie finanziell abhängig
Mörs-Plattes machte als junge Frau eine Ausbildung zur Expedientin, arbeitete am früheren Güterbahnhof Gereon, der sich auf dem Gelände des heutigen Mediaparks befand. Sie sorgte dafür, dass Waren in die ganze Stadt verschickt werden, damals noch mit Pferdewagen. „Ich musste nie einen Mann um Geld bitten“, erzählt Mörs-Plattes. In dieser Sache ist sie unnachgiebig: „Junge Frauen müssen einen Beruf erlernen, und sie sollten ihr Geld immer selbst verdienen.“ Sie tat das bei der Sparkasse, bei der Sächsischen Landesbank, im Kölner Büro einer Bremer Zigarettenfirma und später lange beim Gerling-Konzern.
In ihrer Ehe hatten dann beide immer getrennte Konten. „Ist einfach das Beste. Dass man sich gegenseitig unterstützt, wenn das Dach kaputt ist, wenn große Dinge bezahlt werden müssen, das ist ja klar.“ Aber wegen des Geldes hätte sie nie bleiben müssen. Das gab Freiheit.
Sei offen für die Welt, bleib aufgeschlossen
Karibik, New York, Afrika, verschiedene Ziele in Skandinavien – Lydia Mörs-Plattes und ihr Mann haben gemeinsam viel von der Welt gesehen. Immer per Kreuzfahrtschiff, Flugzeugen traute sie nie über den Weg. Gab es einen Lieblingsort? „Nein, alle Ziele waren toll“, sagt sie heute. Was sie bereut? Nie nach Kuba gekommen zu sein. „Als ich hin wollte, war noch Kalter Krieg, da ging das nicht.“
Mörs-Plattes hat etwas von der Welt gesehen, übers Reisen den Horizont erweitert, Neues gesehen und erlebt, und das macht immer nur klüger und nie dümmer. „Man muss immer aufgeschlossen bleiben“, sagt Mörs-Plattes. Auch Menschen gegenüber. Bis heute, sagt sie, komme sie leicht in Kontakt, ihre Gesprächspartner spiegeln ihr, es sei interessant, sich mit ihr zu unterhalten.
Reisen, wie sie sie unternommen hat, das weiß die Godorferin, kann sich natürlich nicht jeder leisten, aber es gibt ja auch andere Wege, über den Tellerrand zu blicken: Gute Gespräche zum Beispiel, Lesen zum Beispiel. „Dass das jetzt nicht mehr gut geht, ist wirklich schlimm für mich“, sagt sie.
Du musst in kein Schema passen
Kochen, das mochte Lydia Mörs-Plattes nie, „das konnte ich auch nie“ – und das hat sie auch immer offen gesagt. Ungewöhnlich für eine in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geborene Frau – in einer Zeit, als die Vorstellungen davon, wie eine ordentliche Frau zu sein hatte, noch viel starrer waren als heute. Mörs-Plattes zuckt mit den Schultern. Frauen müssen nicht kochen wollen oder können. „Mein Mann konnte das ganz toll, und der wurde 1929 geboren“, sagt sie und lächelt. Auch ungewöhnlich.
Genieß – wenn irgend möglich – das Leben
Wer lange mit Lydia Mörs-Plattes in der engen, gemütlichen Küche in Godorf sitzt, erfährt einiges über ihre 100 Jahre Leben. Nicht chronologisch, es gibt Lücken, sie erzählt für sie Wichtiges in der für sie richtigen Reihenfolge. Bemerkenswert ist: Die Kölnerin erzählt nicht am intensivsten von Schrecklichkeiten, obwohl es davon sicher ausreichend gab, von Krieg, Krankheit, Tod, von Talsohlen des Lebens. Ihr erzählerischer Fokus liegt auf den guten Dingen in einem Jahrhundert.
Sie erzählt mit besonders viel Verve davon, dass sie es geliebt hat zu schwimmen, ihr ganzes Leben lang. Dass sie das im Hohenstaufenbad gelernt hat, es sie im Rhein fast einmal abgetrieben hat, sie sich dann aber wieder ans Ufer retten konnte. Sie erzählt davon, dass sie auf dem Spielplatz ein starkes Mädchen war, das die anderen immer verteidigt hat. Mörs-Plattes schwärmt davon, was für ein Guter ihr Ehemann war, von der offenen Beziehung zu ihrer Mutter und zu ihrem Sohn. Und sie berichtet von Karnevalsfeiern im Partykeller des Hauses in Godorf. „Wir haben immer Karneval gefeiert. Die Tische wurden zusammengeschoben, die Wände waren dekoriert, ich habe Platten beim Metzger bestellt, das war immer schön.“
Auch in diesem Jahr hat Mörs-Plattes noch Karneval gefeiert: Auf Einladung von Henriette Reker ging sie am Rosenmontag zum Empfang ins Rathaus, den Zoch hat sie dann von der Tribüne aus angeschaut. Einen Kaffee und ein Kölsch hat sie sich beim Empfang gegönnt, „ich hätte gern noch ein Kölsch getrunken, aber die Toilette war so weit weg.“