„Die Krise macht etwas mit uns“ heißt es oft. Was das ist, erfahren wir am besten, wenn wir Menschen begleiten.
In der Serie „Kölner Corona-Protokolle“ erzählen ab sofort regelmäßig fünf Menschen, was die Pandemie mit ihnen macht: Sie gefährdet ihre Gesundheit, ihre Freiheit, ihren Beruf und ihre Träume.
In dieser Folge gewährt Wolfgang Stier einen Einblick in sein Leben, das nicht mehr so ist wie vor der Corona-Infektion.
Köln – Meine Erinnerung setzt am Morgen des 27. Oktober aus. Kurz vorher, ich lag schon unter einer Sauerstoffmaske, habe ich meiner Schwester offenbar noch auf dem Handy geschrieben: „Ich fühle mich, als würde ich ertrinken, aber ohne Wasser.“ Kurze Zeit später wurde ich intubiert. Mangels Perspektiven stellte das Lukas-Krankenhaus in Neuss Kontakt zur Lungenklinik in Merheim her. Von dort kam ein Ärzteteam, schloss mich an ein mobiles Ecmo-Gerät an (das ist so etwas wie eine Herz-Lungen-Maschine) und brachte mich – als ich nach einigen Stunden transportfähig war – mit einem Intensivmobil der Kölner Berufsfeuerwehr nach Merheim.
Das Coronavirus hatte meine Lunge komplett verklebt, die Ärzte sagten meiner Frau jeden Tag mehrmals: Wir tun, was wir können, mehr können wir nicht sagen.“ Zwischendurch hatten die Ärzte wohl nur noch wenig Hoffnung. Als die Tante meiner Frau beerdigt wurde, während ich im Koma lag, haben Verwandte auf der Beerdigung auch für mich Kerzen angezündet. Meine Familie hat vier Wochen gelitten, während ich nichts mitbekam. Meine Frau dachte jeden Tag, wenn das Telefon klingelte, jetzt komme die schlimmste aller Nachrichten.
Wolfgang Stier: „Als ob eine Erkältung im Anmarsch wäre“
Wie ich mich angesteckt haben könnte, weiß ich nicht. Im Oktober war ich mit meiner Frau mit dem Wohnmobil für ein paar Tage in Bremerhaven – vielleicht ja dort, auch wenn wir immer Maske getragen und aufgepasst haben.
Am 19. Oktober war ich zum letzten Mal in der Maoam-Fabrik in Neuss arbeiten. Symptome kamen vier Tage später. Ich habe mich schlapp gefühlt, als ob eine Erkältung im Anmarsch wäre; mich ins Bett gelegt, Tee getrunken, irgendwann leichtes Fieber bekommen. Am Wochenende stieg die Fieberkurve, ich hatte keinen Appetit mehr. Am Montag haben wir einen Termin beim Hausarzt gemacht, die Ärztin hat Blut abgenommen und einen Abstrich gemacht. Am Nachmittag rief die Praxis an und sagte, ich hätte eine schwere bakterielle Infektion und müsste ins Krankenhaus.
Meine Frau hat mich in die Klinik gebracht, wir haben uns verabschiedet – und uns dann für mehr als fünf Wochen nicht mehr gesehen. In der Klinik kam relativ schnell die Covid-19-Diagnose. Ich kam auf Intensiv, habe das Medikament Remdesivir bekommen, mir ist Sauerstoff zugeführt worden, „Druckbeatmung, Highflow, Intubation“, steht im Klinik-Bericht.
Wenn ich den Bericht lese, wir mir flau: Allein sieben verschiedene Antibiotika sind da aufgelistet, zig andere Medikamente, Diagnosen, steigende Entzündungswerte, Einschätzungen, die ich zum Glück nicht ganz verstehe. Man kann allerdings auch als Laie rauslesen, dass mein Leben an einem seidenen Faden hing.
Kölner leidet unter Folgeschäden der Corona-Infektion
Ganz zurück im Leben bin ich knapp drei Monate später noch nicht. Der Strecker meines rechten Sprunggelenks funktioniert nicht richtig – ich kann deswegen noch nicht wieder Auto fahren. Wenn ich die Arme zur Seite strecke, fangen die Muskeln an zu zittern. Wenn ich länger ein Handy oder eine Tasse halte, zittert meine Hand. Viel weniger als direkt nach dem Koma – da konnte ich keinen Löffel halten und mich keinen Zentimeter bewegen – aber schon so sehr, dass ich merke: Es dauert. Ich bin eingeschränkt. Überwunden habe ich die Krankheit nicht. Es ist auch nicht sicher, ob ich wieder normal in meinem Beruf als Schlosser in der Haribo-Fabrik arbeiten kann.
Zehn Tage nach meiner letzten Schicht lag ich im Koma, noch am 9. November stiegen die Entzündungswerte. Ans Aufwachen am 22. November habe ich keine Erinnerung. Ich soll irgendwann auf einen Anruf meiner Frau reagiert haben. Mein erstes Bild ist eine Uhr, die im Aufwachzimmer an der Wand hing. Irgendwann wurden Schlucktests gemacht. Die meiste Zeit habe ich geschlafen. Nach zwei oder drei Tagen kam ich schon wieder auf die Normalstation. Am dritten Tag konnte ich mich allein waschen und zitternd auf die Bettkante setzen. Als ich das erste Mal aufstehen wollte, haben meine Beine ihren Dienst versagt. Ich hatte 13 Kilo abgenommen – fast alles Muskelmasse. Als der Arzt mir freistellte, noch für ein oder zwei Wochen in der Klinik zu bleiben oder mich vor einer Reha zu Hause zu erholen, entschied ich, nach Hause zu gehen – zehn Tage, nachdem ich aufgewacht war.
Am Tag der Entlassung, dem 2. Dezember, bin ich das erste Mal wieder drei oder vier Schritte allein gelaufen. Nach Hause konnte ich, weil drei meiner vier erwachsenen Kinder noch bei uns leben und mir helfen konnten – ins Bad zu kommen, zum Beispiel. Entlassen wurde ich in einer blauen Pflegerhose aus dem Krankenhaus, weil ja Besuchsverbot war und meine Frau und die Kinder mit dem Auto in der Tiefgarage warten mussten. Als wir uns wiedersahen, haben alle nur noch geweint. Meine Tochter hat für die Schwestern und Ärzte ein Bild eines Gesichts mit Maske gemalt, wir haben ihnen eine Karte und ein Foto als Erinnerung geschickt, um zu zeigen, wie dankbar wir sind.
„Manchmal habe ich mich dabei gefühlt wie ein Zirkuspferd“
Die Familie ist ein großer Rückhalt. Freunde, mit denen ich seit Jahren wenig Kontakt hatte, waren plötzlich da. Andere, eigentlich engere, haben sich zurückgezogen. Es gab auch über Mail und Whatsapp viel Anteilnahme – manchmal habe ich mich dabei gefühlt wie ein Zirkuspferd. Einige wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten, weil ich lange im Koma lag: Einige dachten, ich sei ein 100-prozentiger Pflegefall, andere, ich hätte nur eine kleine Grippe gehabt. Und ab und an hat man dann gehört, wie die Fantasien ins Kraut schossen. Wenn man Corona nur knapp überlebt hat, ist das wohl so.
Ob ich ein anderer sei, nach dem Koma, hat mich jemand gefragt? Nein, ich denke nicht. Alles Süße hat für mich am Anfang bitter geschmeckt, inzwischen wird der Geschmackssinn etwas besser. Es gibt die körperlichen Defizite. Die Unsicherheit, ob ich wieder normal arbeiten kann. Und manchmal holt mich die Wucht der vergangenen Wochen ein: Dann liege ich im Bett und kann nicht schlafen, oder ich weine, wenn ich mit meiner Mutter telefoniere. Aber verändert habe ich mich nicht.
„Ich wünsche mir, dass die Leute vorsichtig sind“
Ich wünsche mir, dass die Leute vorsichtig sind, und ärgere mich mehr als vorher über die Unvorsichtigen, die Corona auf die leichte Schulter nehmen. Die gibt es sogar in meiner Familie noch.Dankbarer als vorher bin ich. Über meine Kinder, meine Frau, die Familie, den Freundeskreis, auch über Kleinigkeiten: Wieder eine kleine Runde spazieren gehen zu können, ohne zu zittern eine Gabel zu halten. Ich denke auch, dass ich Glück gehabt habe, im Oktober auf Intensiv gekommen zu sein – momentan herrscht dort ganz anderer Stress.
Eigentlich sollte ich seit dem 16. Dezember in der Reha-Klinik in Eckenhagen sein – dort wurde ich allerdings nach dem Einchecken erneut positiv auf das Virus getestet und wieder nach Hause geschickt. Laut meinem Kölner Lungenarzt hätte das nicht sein dürfen, da der Grenzwert des Robert-Koch-Instituts nicht überschritten war – ich musste trotzdem zurück nach Hause, die ganze Familie musste wieder in Quarantäne, bis nach Weihnachten – das war mental für alle schwierig.
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Jetzt warte ich auf den Beginn der Reha – ich merke, dass ich die brauche, um körperlich wieder einigermaßen in Schuss zu kommen. Mitte Februar steht ein großer Gesundheitscheck in Merheim an – danach weiß ich auch, welchen Schaden meine Lunge genommen hat. Wie es weitergeht, wann und wie ich wieder arbeiten kann, ist noch nicht absehbar. Ich werde im Frühjahr 57 und habe noch viele Träume.Ich würde gern irgendwann die Polarlichter sehen. In Portugal überwintern. Vielleicht mal in einem kleinen Tiny-Haus wohnen, mit Blick auf einen See. Es ist schön, dass ich diese Träume noch haben kann.