- Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) besteht in diesen Tagen seit 40 Jahren.
- Der Verein versteht sich als „eine lokale Selbsthilfebewegung der Unterdrückten und Ausgesonderten“.
- Mitgründer Rainer Kippe spricht im Interview über Hausbesetzungen und die Wohnungsnot in Köln.
Köln – Am ersten Novembersonntag 1979 besetzten Aktivisten das Gelände einer alten Schnapsbrennerei an der Düsseldorfer Straße. Das Ereignis gilt als Geburtsstunde der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM), entstanden aus dem Kreis der 1969 gegründeten Sozialistischen Selbsthilfe Köln. Das Gebäude wurde saniert und dient dem SSM bis heute als Sitz. Der Verein versteht sich als „eine lokale Selbsthilfebewegung der Unterdrückten und Ausgesonderten“.
Herr Kippe, die Sozialistische Selbsthilfe hat vor 40 Jahren Häuser besetzt, und sie macht das nach wie vor. Hausbesetzungen waren und sind illegal, aber Sie sehen sie als politisches Instrument.
Lassen Sie mich erst einmal eins klarstellen: Der Umgang hat sich geändert, und zwar von beiden Seiten. Anfang der 1970er Jahre wurde aus Hausbesetzungen eine politische Grundsatzfrage konstruiert. Wir Besetzer haben die Häuser verbarrikadiert, und wenn die Polizei gestürmt hat, dann hat man die Waschbecken aus den Fenstern geworfen.
Aus Lust, es dem Staat zu zeigen? Aus Hass?
Umso mehr Gewalt angewendet wurde, desto höher galt das politische Niveau. Das war die Doktrin. Und wenn die Polizei nicht nur mit Tränengas, sondern auch scharf geschossen hat, dann fühlten wir uns wie kurz vor der Revolution.
Wie sehen Sie das heute?
Dieses Kampfdenken ist den Leuten damals eingeimpft worden, das war völlig abgehoben, blödsinnig. Aber wir mussten den Lernprozess durchlaufen, weil die andere Seite ja auch völlig maßlos reagiert hat.
Inwiefern maßlos?
Als wir zum Beispiel das Rektorat der Uni besetzt haben, hat die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Rädelsführerschaft beim schweren Landfriedensbruch erhoben. Ich hatte zwei Verfahren vor der Großen Strafkammer des Landgerichts, es gab später eine Amnestie. Heute würde man den Besetzern Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung vorwerfen. Und dann käme vielleicht eine Verwarnung raus, eine Geldstrafe oder Sozialstunden.
Was führte dazu, dass die Konfrontation mit der Zeit weniger unerbittlich geführt wurde?
Wir haben einen Weg gefunden, indem wir mit der Polizei geredet haben. Ich finde, wir beanspruchen zu Recht, leerstehende Häuser zu bekommen. Aber nicht für uns selber, sondern für Bedürftige, die obdachlos sind. Wenn wir heute ein Haus besetzen, öffnen wir die Türen. Die Polizei kann ruhig hereinkommen. Deren Einstellung hat sich auch gewandelt. Ich glaube, viele denken, es ist ja richtig, dass leerstehende Häuser wieder bewohnt werden. Das ist keine Störung der öffentlichen Ordnung, der Hauseigentümer will das Gebäude je ohnehin abbrechen. Man begegnet sich mit Respekt, wir nennen das die Kölner Linie.
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Unterscheidet sich Köln in der Hinsicht von anderen Städten?
In Köln gibt es eine andere Mentalität. Ich bin Sachse, aufgewachsen in Oberfranken, ein Lutheraner. Was eine katholische Kultur ausmachen kann, das habe ich erst in Köln erfahren.
Was hat die katholische Kultur mit Hausbesetzungen zu tun?
Wenn jemand arm ist, wird er von den Kölnern immer noch mit Respekt behandelt. Sie werden nicht gehasst, nicht verachtet, das halte ich für etwas ganz Wesentliches in dieser Stadt. Natürlich gibt es hier die preußische Verwaltung, aber das ist nur Tünche, die entspricht nicht der Seele Kölns. Was immer die preußische Provinzialverwaltung, heute in Person des Regierungspräsidenten, sagen mag, die Kölner handeln ganz anders. Das muss man als oberfränkischer Protestant erst einmal lernen.
Viele haben ein Problem, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Die Lage ist so schwierig wie seit Jahren nicht mehr. Melden Sie sich deshalb mit Aktionen wie in Ossendorf und Dellbrück zu Wort?
Vorweg: Wir haben es geschafft, in den 70er und 80er Jahren die Obdachlosigkeit und die Wohnungsprobleme weitgehend zu lösen. Die Stadt hat damals Hundert Millionen Mark in den Hand genommen und ein Bauprogramm aufgelegt. Ich kann es nicht fassen, dass man das jetzt nicht wieder so macht. Die Entwicklung war ja absehbar. Es würde die Stadt einen Federstrich kosten, ihre frühere Baugesellschaft Grubo zu aktivieren. Genügend Boden besitzt die Stadt auf jeden Fall. Aber darüber wird überhaupt nicht diskutiert. Insofern ist die Wohnungsnot hausgemacht, ein absolutes Versagen von allen Beteiligten.
Zuletzt haben Sie bei Hausbesetzungen auf die Not obdachloser Frauen hingewiesen.
Zu unserer Sozialberatung kamen mehrere obdachlose Frauen, feine alte Damen. Die Stadt ist nicht in der Lage, sie angemessen unterzubringen. Man bietet ihnen Schlafstellen an, aber dann dürfen sie ihre Tiere nicht mitbringen und müssen ihre Medikamente abgeben. Für eine Nacht mag das prima sein, aber nicht auf Dauer.
Hat sich etwas von Ihrer Utopie verwirklicht?
Wir zeigen, wie in dem bestehenden kapitalistischen System eine andere Art von Ökonomie möglich ist. Natürlich mit Kompromissen und Schwierigkeiten. Wir fühlen uns nicht gefesselt an das kapitalistische System, das sich auf Crash-Fahrt befindet. Wir führen vor, dass man ganz anders wirtschaften kann; und zwar mit Hilfe von Menschen, die ausgeschieden sind, mit Produktionsmitteln, die abgeschrieben sind, ausrangierte Lastwagen zum Beispiel. Utopie heißt zu Deutsch Kein-Ort, wir sind das Gegenteil von Utopie.
Der SSM als sozialistische Insel, als kleines Gegenmodell? Oder geht es für Sie noch um die Grundsatzfrage der Anfangsjahre?
Wir sind immer noch der Auffassung, dass die Menschheit ein Leben verdient hat, das nicht von den Geldbewegungen abhängig ist. Aber wir sind keine sozialistische Partei. Wir helfen in den schlimmsten Fällen, wir diskutieren und laden andere ein, sich von der Illusion des Kapitalismus zu befreien.
Sie benutzen abgeschriebene Güter, bekommen Holz geliefert, gebrauchte Kleidung, im Grunde genommen alles Reste. Irgendwer muss die Dinge aber mal neu anschaffen, damit sie bei Ihnen als Reste ankommen können...
...Da schauen Sie jetzt wieder mit der kapitalistischen Brille. Sie nennen es Reste, wir dagegen sprechen von Produktionsmitteln. Wer Sachen, die man noch brauchen kann, in großem Ausmaß wegwirft, verstößt gegen das Gebot, Ressourcen bestmöglich zu verteilen.
Wie groß ist die Gemeinschaft, die Ihr Modell ernährt?
Wir setzen jährlich 300.000 Euro um, das ist viel Geld. Jetzt stellen Sie sich vor, davon leben 30 Leute. Dann haben sie einen Umsatz von 10.000 Euro pro Nase. Auf sich allein gestellt könnte davon kaum einer leben. Wenn Sie so viele Leute für so wenig Geld ernähren können, dann ist das doch ein richtig gutes Modell.
Haben Sie selber in den zurückliegenden Jahren Geld verdient?
Ich habe nie für Geld gearbeitet, deshalb bekomme ich kaum Rente. Ich habe immer das gemacht, was ich wollte, davon hab ich gelebt. Und jetzt bin ich 75.
Das Gespräch führten Andreas Damm und Helmut Frangenberg