Veedels-CheckGrenzlinien laufen in Raderberg quer durchs Viertel
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Die größte aller Veränderungen steht Raderberg noch bevor. Der Großmarkt, der verwaltungstechnisch zu Raderberg gehört, wird zum Wohn- und Geschäftsviertel. 16.000 statt bislang 6300 Menschen könnten dann in dem Stadtteil wohnen, der sich zwischen Bonner Straße und Vorgebirgspark südlich an die Innenstadt anschließt. Und so haben bereits in den vergangenen Jahren zahlreiche Investoren auch in Raderberg gebaut. Aus einer Wäscherei wurde ein Wohnblock, aus einem Hinterhof mit Ateliers und Kfz-Werkstatt eine dichte Wohnsiedlung. Das Veedel ist gewachsen. Was macht das mit dem Ort, der lange im Schatten des Szeneviertels Südstadt und dem bürgerlichen Bayenthal eher unter dem Radar der meisten Kölner flog?
Diese Sorge treibt auch Annette Full um. Zusammen mit weiteren Bewohnern aus Raderberg engagiert sie sich im Verein „Raderberg BeLeben“. Zunächst geht es darum, die Nachbarschaft überhaupt ins Gespräch miteinander zu bringen. Denn in Raderberg wachsen auch die Gegensätze. „Das Viertel hat sich total verändert“, sagt Full. Ruhig und fast dörflich, so beschreibt Full das Viertel. Die Architekten der jüngsten Neubausiedlungen haben die mitunter recht verschachtelte Struktur der früheren Gewerbehöfe aufgenommen. Viele Durchfahrten und kleinere Durchlässe in den alten Backsteinmauern laden zum Streunen durch die architektonisch eher unspektakulären Siedlungen ein.
Nachbarschaft im Wandel
Vielleicht ist es deshalb erst auf den zweiten Blick sichtbar: Die Nachbarschaft ist im Wandel. „Die Immobilienpreise ziehen ein anderes Publikum an“, sagt Full. In Raderberg gab es zwar immer schon auch freistehende Einfamilienhäuser für Besserverdienende. Ein großer Teil der Raderberger lebte aber bislang in den Zeilenbauten der Genossenschaften und in den Wohnungen an der Brühler Straße: bezahlbare Wohnungen. Droht den Raderbergern die große Aufwertung? „Ein Viertel für alle“, so simpel ist der Wunsch des Bürgervereins. Gleichwohl wissen seine Mitglieder, dass die Realität dem schon immer Grenzen gesetzt hat. „Die Grenzmauer verläuft auf der Brühler Straße“, sagt Stephanie Schroeder. Sie wohnt in der Rheinsteinstraße am Anfang der Siedlung zwischen Brühler und Bonner Straße, in einem Architektenhaus mit sechs „Townhouses“: abgeschlossene, mehrgeschossige Wohnungen nebeneinander. Sie und ihre Nachbarn fühlen sich oft als Sonderlinge in der Straße.
„Wir kannten die Ecke nicht gut und wollten einfach etwas Bezahlbares finden“, sagt Schroeder über ihre Erwartungen vor dem Einzug. Ihr sei noch nie etwas passiert, Angst habe sie auch nachts noch nie gehabt, betont sie. Die schlimmen Zeiten seien längst vorbei, die Nachbarn herzlich, die anderen Eltern auf dem idyllischen, von hohen Bäumen gesäumten Spielplatz inmitten der Siedlung offen und freundlich, das Jugendzentrum eine engagierte Einrichtung. Und doch spürt sie, dass die Rheinsteinstraße von der anderen Seite der Brühler Straße nicht nur durch die Fahrbahn getrennt ist. Von den Neubauten kriegen Schroeder und ihre Nachbarn nicht viel mit. Die Probleme seien andere, die gegenüber beklagten fehlenden Parkplätze oder zu viel Verkehr. „Wir haben hier in der Straße richtige Armut“, sagt die Mutter von zwei Kindern. Deshalb engagiert auch sie sich, hält Kontakt zum Bürgerverein und hat Flyer für das Spielplatzfest in der Rheinsteinstraße in ganz Raderberg verteilt.
Sicher, ob die unsichtbare Mauer überhaupt überwunden werden kann, ist sie indes nicht. „Wenn, dann geht es nur über die Kinder“, sagt sie. Etwas mehr Mischung würde der Gegend, in der sie lebt, in jedem Fall gut tun. Die Grundschule Annastraße, die ihre Kinder besuchen, macht ihr Hoffnung. Mit ihrem bilingualem Englisch- und einem Sport-Zweig sei das eine „Superschule“.
Im kleinen Raderberg gibt es jedoch noch einen weiteren Ort, der auf den ersten Blick hinter einer – diesmal wörtlichen – hohen Mauer abgeschottet scheint. An der Brühler Straße steht das Kloster der Benediktinerinnen. 1896 zogen die Schwestern ein; heute dürfte ihr Orden einer der wenigen sein, der wächst. 26 Nonnen leben derzeit hinter den Klostermauern. Und wer der Oberin, Schwester Emmanuela, zuhört, der merkt schnell, dass sie mitten in der Gegenwart leben – mit klaren Grenzen und dem doch deutlichen Willen, sich dem Viertel zu öffnen.
Das war nicht immer so. Bis Mitte des vorigen Jahrhunderts habe sich der Konvent abgeschottet. Erst dann öffnete er sich allmählich den Familien, den Freunden, den Kommunionskindern der Gemeinden aus der Umgebung. „Die Nachbarschaft“, stellt Schwester Emmanuela aber fest, „kam zuletzt.“ Auch für sie ist die Gründung des Bürgervereins, der von Beginn an den Kontakt zum Konvent suchte, ein Weckruf: „Dadurch ist uns klar geworden, dass es ein Bedürfnis gibt, uns kennenzulernen“, sagt sie. Also beteiligen sich die Benediktinerinnen im Sommer am Straßenfest. Die Nonnen verkaufen rund 2000 Kugeln Eis. Die Vereinsmitglieder schauen zum Grillabend mit Lagerfeuer vorbei. Der Weihnachtsmarkt in diesem Jahr soll in der Auffahrt Platz finden. Das Kloster beeindruckt die Besucher, die nun immer öfter aus der Nachbarschaft kommen, alleine schon, weil die Weite der Anlage mit ihren Obstwiesen, den grasenden Kühen und dem früheren Schweinestall so unerwartet auftaucht im immer dichter bebauten Stadtteil. Die Oberin nennt das Gebäude einen „fast natürlichen Identifikationspunkt“ im Viertel. Für die Nonnen ist es ein Ort des Gebets, sie leben und arbeiten hier. Schwester Emmanuela glaubt, dass das ausstrahlt. Für den Stadtteil könnte das Kloster so etwas sein wie die „geistige Kläranlage“.
Ohne Mauern um das Kloster geht es aber nicht, sagt die Oberin: „Aus dem Kloster kann kein Park für Raderthal werden.“ Sie sieht eine Spannung zwischen ihrer Lebensform und der Großstadt um sie herum. Und sie weiß, wie wertvoll der Platz ist, den sie sich im „Ballungsraum Köln“ bewahren wollen. Die Schwestern versuchen damit umzugehen, indem sie sich auch als Vermieter und Investoren am Gemeinwohl orientieren. Dem Konvent gehören einige Wohnungen in der Straße. Sie versuchen, die Mieten niedrig zu halten. Außerdem werden sie neuen Wohnraum schaffen. Auf einem angrenzenden Grundstück, zuvor unter anderem an einen Tankstellenbetreiber vermietet, soll nun ein Wohnhaus entstehen – gebaut in Eigenregie, um die Mieten nicht unnötig zu verteuern. Im Erdgeschoss soll eine Kita einziehen, eventuell mit Zugang zum Klostergarten. „Die Idee war sonnenklar. Das wird ein fantastischer Blick sein“, sagt die Oberin. Sie glaubt, dass sich Raderberg gerade „fundamental verändert“. Auch ihr Projekt verbreitet Aufbruchstimmung, die überall im Stadtteil spürbar ist.
Zur Geschichte von Raderberg
Der Name des Veedels verweist auf den makaberen Ursprung. Wenngleich Raderberg erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts besiedelt wurde, hatte der Ort vorher schon als Hinrichtungsstätte eine Bedeutung für die Stadt. Die Delinquenten starben auf einem Rad. Die jüdischen Kölner begruben außerdem ihre Toten in der Gegend.Gleichzeitig war der Ort eine Vergnügungsstätte mit mehreren Tanzsälen und Gaststätten. 1888 wurde der Ortsteil nach Köln eingemeindet. In den 1870er Jahren entstanden die ersten, kleineren Fabriken, dank der guten Anbindung mittels einer Pferdebahn, später erste Arbeitersiedlungen an der Bonner Straße.Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde der Vorgebirgspark angelegt. In den 1930er Jahren entstanden der Großmarkt und die heute denkmalgeschützte Halle. Er soll in den nächsten Jahren einem Wohn- und Geschäftsviertel sowie der Grüngürtelverlängerung weichen. (phh)
Offene Baustellen im Veedel
In der nächsten Zukunft dürfte der Verkehr eines der drängenderen Probleme in Raderberg sein. Die Raderberger Straße dient als Ausweichstrecke für Autofahrer. Sie verläuft parallel zur Brühler Straße zwischen Gürtel und Großmarkt. Auf ihr lässt sich auch ein Teilstück der Bonner Straße umfahren, wo demnächst die Gleise für die Nord-Süd-Stadtbahn verlegt werden. Die Vorarbeiten haben bereits begonnen, und Anwohner klagen schon jetzt über zunehmenden Schleichverkehr, insbesondere seit sich Marienburg und Bayenthal durch neue Abbiegevorschriften und Straßensperrungen vom Durchgangsverkehr abzuschotten versuchen. Aber auch durch die vielen neuen Bewohner sind mehr Autos auf den Raderberger Straßen unterwegs. Einkaufsmöglichkeiten und Kneipen sind rar im Stadtteil; ein echtes Zentrum fehlt. Insofern liegt in der geplanten Parkstadt eine Chance. Dort könnte ein solches Zentrum entstehen mit Geschäften, Cafés und Dienstleistungen. Vorgesehen ist etwa ein Boulevard im Zentrum des neuen Wohnviertels. Da das Innere der Parkstadt in Teilen autofrei erschlossen werden soll, kommen der Marktstraße und dem Bischofsweg, die den Großmarkt vom Raderberger Wohnviertel trennen, künftig eine besondere Bedeutung zu. (phh)