Schon 41 Jahre lang beobachtet Peter Karrasch die Entwicklung von Weidenpesch genau. Als er 1977 nach Köln kam, bezog er seine Wohnung An den Kreutzmorgen im Zentrum des Ortes. Der war sehr bürgerlich geprägt, in den Läden entlang der Neusser Straße bekam man alles, was man brauchte und sich wünschte. Das hat sich geändert. „Ein gewisser Abstieg im Vergleich zu früher ist spürbar, die Anonymität im Viertel ist gestiegen.“ Man kenne die Nachbarn nicht mehr so wie früher. Und über die Jahrzehnte dünnte sich der Einzelhandel aus. „Der damalige U-Bahn-Bau schnitt Weidenpesch ein wenig ab, viele Geschäfte gingen zugrunde.“ Karrasch engagierte sich jahrelang als CDU-Mandatsträger in der Bezirksvertretung Nippes; die letzten Jahre vor seinem politischen Ruhestand 2011 als Fraktionschef. Zu seinen früheren Amtskollegen hat er sich einen parteiübergreifend guten Kontakt bewahrt.
Pferderennbahn als Wahrzeichen
Rein geografisch bildet Weidenpesch das Zentrum des Stadtbezirks Nippes. Überregional ein Begriff ist der Ort durch sein Wahrzeichen – die Pferderennbahn, auf der internationale Rennen stattfinden und die auch eine schöne Grünfläche ist. Innerhalb Kölns ist Weidenpesch als Hauptsitz der Feuerwehr bekannt – deren Gebäude an der Scheibenstraße generalsaniert und erweitert wird –, wegen der großen benachbarten Bezirkssportanlage und dem Nordfriedhof, dem nach Fläche viertgrößten Kölns. Doch entlang der Neusser Straße, die wie in Nippes Orts-Hauptmeile ist, entfaltet Weidenpesch einen eher herben Charme. Das Stadtbild wirkt unruhig; im Südteil ist das Veedel durch die Bahn-Tunnelausfahrt zerschnitten. Es gibt schöne Altbauten – wie in der 1906 errichteten Pallenberg-Siedlung mit ganz unterschiedlichen Bilderbuch-Häuschen – aber auch viele hässliche Klötze, oft mit Fassaden aus Waschbeton oder den berüchtigten „kölschen Kacheln“. Die Hochhäuser im Umfeld der Kreuzung Neusser/Kapuzinerstraße kontrastieren die eher kleinen Häuser ringsum, auch Grün gibt es an der Meile wenig. „Weidenpesch hat keinen richtigen gewachsenen Ortskern wie andere Stadtteile im Bezirk“, resümiert Karrasch.
Als Plus des Veedels sieht er das Vereinsleben – die engagierten Kirchengemeinden mit ihrer ökumenischen „Elisabethkorb“-Tafel, die KG Kölsche Boor, Stephanus-Schützen, Gesellschaftskreis, Prummefunke, der Stammdesch Om Piefes und weitere. Ferner gibt es die Alte Zollgrenze als Traditionslokal, den Pferdeschutzhof, für dessen Erhalt man lange politisch kämpfte, sowie das 2009 eröffnete Phönix-Seniorenhaus, das mit Veranstaltungen und Bürger-Engagement dem Ort gut tue. Was aber fehle, sei ein funktionierender Bürgerverein. „Er existierte bis 2000, dann fand sich wegen Unstimmigkeiten kein Vorsitzender mehr. Er ist zwar noch eingetragen, aber nicht mehr aktiv: Ein schlafender Riese von Weidenpesch.“ Ärgerlich sei auch der schlechte Zustand der denkmalgeschützten VfL-Tribüne auf dem Rennbahngelände, wo einst sogar Deutsche Meisterschaften ausgespielt wurden. „Dass sich bis zum heutigen Tage nichts bewegt, ist ein Unding. Der Platz ist unansehnlich und zu nichts mehr nutzbar.“ Als bloßer Parkplatz für Renntage sei der alte Platz mitsamt Tribüne viel zu schade.
Das Veedelsleben möglich macht zu einem großen Teil der Förderverein des Pfarrheims Heilig Kreuz mit 164 Mitgliedern um den Vorsitzenden Günter Ritter. 2006 gegründet, wurde er Anfang 2007 Träger des Pfarrheims an der Kapuzinerstraße, als sich das Erzbistum zurückzog. Hier finden Schützen- und Gemeindefeste, Konzerte, Vorträge, Lesungen und private Feiern statt. „Und unsere Frikadellensitzung, die einzige Karnevalssitzung mit essbaren Orden“, ergänzt Ritter lächelnd. Insgesamt ist er mit Veedel und Umgebung zufrieden. „Weidenpesch an sich ist, wenn man von den Hochhäusern absieht, ein schöner und zentraler Ort. Man hat viel Natur um sich – Ginsterpfad, Nordfriedhof, Rennbahngelände und weiteres. Man kann von hier aus 30 Kilometer durchs Grün laufen.“
Veedel als Zwischenquartier
Aber auch ihm kommt es anonymer als früher vor. „Durch die verdichtete Bebauung hat die Fluktuation zugenommen. Viele sehen den Ort als Zwischenquartier und engagieren sich wenig.“ Den damaligen Bahnbau, der das Veedel teilte, sieht er ebenfalls kritisch: „Man hätte etwas mehr Geld in die Hand nehmen und die U-Bahn bis zur Wilhelm-Sollmann-Straße durchziehen sollen.“ Das Kneipenleben bereitet ihm auch Sorgen. „Abgesehen von den Lokalen an der Theklastraße und der Zollgrenze als großer Anlaufpunkt im Norden ist es wenig geworden.“ Die Rennbahn mache sich dagegen zunehmend gut und belebe sich spürbar. Weiter westlich liegt ein vergessener Teil von Weidenpesch: die Hochhaussiedlung an der Etzelstraße, durch den Friedhof vom Veedel abgeschnitten. In einer Containeranlage liegt das Gemeinwesenzentrum Etzelstraße des Arbeitskreises für das ausländische Kind (Aak). Schon seit 40 Jahren ist man präsent; zunächst in einem der Hochhäuser, seit 2003 mit eigenen Räumen in alten Schulcontainern. Das Innere ist liebevoll gestaltet: Es gibt einen Hauptsaal mit Küche, Kicker, Billard und Sitzgruppe sowie einen Hausaufgabenraum. Die Bedingungen für Jugendliche in der Siedlung seien jedoch hart, die Wege zu fast allem weit.
„Im Quartier gibt es einen Kiosk-Minimarkt, eine Pizzeria und zwei Moscheevereine – und sonst nichts“, betont Christina Böhm, die mit Stefan Kürten in der Einrichtung tätig ist. „Bei uns sollen die Kinder und Jugendlichen einen weltlichen Gegenpunkt finden, um sich zu entfalten und ihre Freizeit entspannt zu verbringen.“ Ein großes Problem ist der „Brain-Drain“: Abiturienten seien selten; wer es aber zu etwas bringe, ziehe meist schnell weg. Trotz der prekären Lage der Siedlung stiegen die Mieten auch hier. Die fehlende Identifikation mit der Siedlung drückt sich auch in Zerstörungswut auf dem Areal aus. „Die Bewohner empfinden eine gewisse Gesetzlosigkeit. Hier in der Etzelstraße komme eh nie die Polizei, meinte neulich ein Zehnjähriger“, so Böhm. Auch die Schwelle, ab der man die Polizei ruft, liegt höher als anderswo, hinzu kommt ein gewisses Misstrauen zur Polizei. Angesichts alledem leistet das Team einen schweren, oft aufopferungsvollen, aber sehr wichtigen Job. „Wir machen Köln-Ausflüge mit den Jugendlichen, um ihnen auch mal ein anderes Umfeld zu zeigen – etwa zum Dom“
Zur Geschichte von Weidenpesch
Schon im frühen 17. Jahrhundert war das Dorf Merheim, der Vorläufer von Weidenpesch, auf einer alten Karte zu sehen. Wie der gesamte heutige Stadtbezirk Nippes wurde es von den Franzosen 1794 zur „Mairie de Longerich“ zusammengefasst, von den Preußen ab 1815 als „Bürgermeisterei“ weitergeführt. 1874 eröffnete das „Kükenhaus“, der noch heute bestehende älteste Teil der Florian-Grundschule. 1888 erfolgte die Eingemeindung nach Köln, 1895 wurde der Nordfriedhof angelegt. Nach der Gründung des Kölner Renn-Vereins 1897 gab es im Folgejahr die ersten Pferderennen. In den 1920er- und 1930er-Jahren wuchs das Veedel stark durch Genossenschafts-Wohnhäuser.Wegen ständiger Verwechslungen mit dem rechtsrheinischen Stadtteil Merheim wurde der Ort 1952 in Weidenpesch umbenannt – nach dem alten Weidenpescher Hof, dessen Reste auf dem Rennbahngelände befinden. In den 1970er-Jahren veränderten Hochhausbauten das Ortsbild stark. 1978 zog die Kölner Berufsfeuerwehr mit ihrem Hauptsitz an die Scheibenstraße. (bes)
Offene Baustellen
Die Hoffnung der Veedelsbewohner, durch einen Weiterbau des Gürtels vom überörtlichen Durchgangsverkehr entlastet zu werden, haben sich durch die politische Absage an den Ausbau zerschlagen; ein schrittweise umzusetzendes Verkehrskonzept soll in den nächsten Jahren die Situation etwas verbessern.Ebenfalls geplant ist eine Neugestaltung des Weidenpescher Abschnitts der Neusser Straße. Hierdurch erhofft man sich auch eine attraktivere Einkaufsmeile, auf der es in den vergangenen Jahren mehrere Laden-Schließungen gab. Zudem stehen große Bauprojekte im Raum: Auf einstigem Friedhofs-Reservegelände Ecke Merheimer Straße/Schmiedegasse soll eine Schule entstehen, nach aktuellem Stimmungsbild im Rat wohl eine Gesamtschule. Jüngst bekannt wurden die Pläne eines Investors für ein neues, rund 330 Wohneinheiten zählendes Stadtviertel am Simonskaul, das das Ortsbild im Nordteil des Veedels deutlich verändern dürfte. Hiervon sind mehrere Gewerbebetriebe und einige Anwohner betroffen, die derzeit dortarbeiten und leben. Einen städtebaulichen Akzent dürfte künftig auch der Abbruch und Neubau des evangelischen Gemeindezentrums Derfflingerstraße setzen. (bes)